Freie Fahrt für freie Bahnbürger – mit Reservierungspflicht unmöglich?

Abstand Im Zug

Ein Pressesprecher der Deutschen Bahn behauptete, nur ohne die Pflicht zur Sitzplatzreservierung blieben die DB Züge offen für Spontan-Reisende. Das ist, mit Verlaub, Stuss.

Im Deutschlandfunk ging es um die Frage, ob eine Sitzplatz-Reservierungspflicht in Zügen nicht helfen könne, das Risiko einer eventuellen Corona-Verbreitung zu minimieren. Das klinge zwar logisch, so der DB-Konzernsprecher. Doch das wäre mit „vielen Einschränkungen“ für die Reisenden verbunden. Dann könnten ja Reisende nicht mehr „spontan“ in einen Zug einsteigen! Und Familien auch nicht zusammen reisen!

Wieso bedeutet Sitzplatzreservierung, niemand darf spontan mit dem Zug fahren? Und was haben Familien mit diesem Thema zu tun? Der DB-Sprecher dreht die alte Leier: Das „offene System“ ohne Reservierungspflicht muss erhalten bleiben. Ist die Autolobby Vorbild? Dort hieß es ja über Jahrzehnte, wann immer eine Tempobegrenzung für Autobahnen gefordert wurde: Freie Fahrt für freie Bürger. Selbst Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sieht das seit neuestem nicht mehr so eng. Sollten wir rufen: Söder, übernehmen Sie?

OFFENES SYSTEM CONTRA RESERVIERUNGSPFLICHT

In den meisten Ländern Europas, allen voran Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland und Polen, besteht im Fernverkehr die Pflicht, mit dem Kartenkauf einen Sitzplatz zu reservieren. Die Reservierungskosten sind zumeist im Kartenpreis inkludiert. Bei der Deutschen Bahn kann man reservieren, muss aber nicht. Die DB formuliert feinfühlig, die Sonderzahlung für eine solche Reservierung bedeute nicht etwa die Bezahlung für einen Sitzplatz! Sondern… die Gebühr für den „Service“ der Reservierung als solcher. Anders gesagt, ohne Reservierung kein Anrecht auf einen Sitzplatz. Wer Pech hat, muss eben sechs Stunden lang selbst im ICE stehen. Genau diese Qualitätsminderung der Reise in Fernzügen wollen die anderen Bahnverwaltungen Europas vermeiden. Dort geht das ebenso wie ein Tempolimit auf Autobahnen, ohne dass die Regierungen gestürzt werden. Warum sollen ausgerechnet nur deutsche Reisende der Meinung anhängen, Freiheit im Zug gibt es nur mit dem Recht auf einen Stehplatz?

In Schweden ist inzwischen ein Kauf von Fahrkarten im Zug beim Zugbegleiter unmöglich. Doch dennoch dürfen Schweden spontan in den Zug springen! Die einfache Lösung: Noch mehrere Minuten NACH Besteigen des Zugs sind die Buchungsportale online offen, damit gerade solche Spontanreisenden sich per Smartphone oder Laptop noch schnell im Nachhinein ein E-Ticket buchen können. Klar, mit Reservierung eines Sitzes. Wer will, der kann! Möchte etwa die Deutsche Bahn mit der Litanei vom „offenen System“ davon ablenken, dass sie sich die Kosten sparen möchte für ein modernes Buchungssystem wie in Schweden?

Es ginge ja auch so: Die berühmten Spontan-Reisenden des DB-Sprechers melden sich beim Zugbegleiter und kaufen dort eine Karte mit Sitzplatzreservierung. Aber, modernes IT-System… siehe oben? Erlauben die mobilen Portale der DB-Zugbegleiter keine Reservierungsbuchung? Bislang nahmen sie ja auch keine Zahlung mit EC-Karten an, obwohl diese im Gegensatz zu den akzeptierten Kreditkarten à la Visa, Mastercard usw. der DB keine Gebühren verursachen. Das gleiche Problem haben noch immer die meisten Kassen der ICE-Speisewagen. Ein DB-Mitarbeiter erklärte dazu inoffiziell dem bahn manager, diese seit langem veralteten Portale und Kassen habe seinerzeit die DB mit äußerst langer Vertragszeit geleast. Ein selbst verschuldeter Knebelvertrag ohne Ausstiegsmöglichkeit. Im Restaurationsbereich hielten inzwischen die ersten neuen Kassen Einzug. Doch zufrieden mit ihnen ist das Personal auch wieder nicht. Denn die Geräte funktionieren im normalem Handynetz, und das ist ja, entgegen den Versicherungen der Marketing-Abteilung, weiterhin im ICE zu oft löchrig…

Übrigens bedeutet Reservierungspflicht ja nicht unbedingt, die Reisenden sind an den gebuchten Sitzplatz gekettet. In Frankreich oder Polen ist es durchaus akzeptiert, auch einen anderen, noch freien Platz einzunehmen. Wenn den dann jemand anders gebucht hat und seinen Anspruch vorweist, muss der fremde Platz natürlich frei gemacht werden. Damit könnten im Prinzip auch die vom DB-Sprecher angeführten Familien prinzipiell zusammen reisen, selbst wenn sie spontan zusteigen und keine zusammenhängenden Sitze buchten.

Um Fahrgäste besser vor Corona-Infektionen zu schützen, fordern jetzt Politiker von Grünen und FDP, das Buchungssystem der Bahn vorübergehend umzustellen und Reservierungen zur Pflicht zu machen. D’accord, meint der bahn manager, aber warum nicht für immer? “Im Grundsatz halten wir aber auch daran fest, dass Menschen ohne Reservierung die Züge jederzeit besteigen können, aber wir haben eben jetzt gerade andere Zeiten”, erklärte der Grünen-Bahnpolitiksprecher Matthias Gastel. Verehrter Herr Gastel, lassen Sie sich nichts einreden - Reservierungspflicht und spontan Reisen geht doch, siehe oben, durchaus zusammen!

Dass es so nicht weitergehen sollte, zeigen die massiven Proteste vieler DB-Reisender auf der Webseite inside.bahn.de/massnahmen-sicherheit-corona-bahn/ . Zwar verbreiten dort, wie nicht anders zu erwarten, auch einzelne Verschwörungstheoretiker und hemdsärmliche Masken-Verachter ihr Gift. Beispiel: „Es wäre wirklich schön, wenn die Masken-Enthusiasten endlich dem Fernverkehr fern bleiben würden. Als BC100 Inhaber habe ich nämlich keine Lust mich von 17,90 Euro-Gelegenheitsfahrern auch noch maßregeln zu lassen. Euer soziales Denunzieren nervt nur noch.“ Na prächtig. BC100-Deutschland, ein einig Volk von Rüpeln?

Doch die dezidierte Mehrzahl der dort postenden DB-Kundin*nen fordert von der DB mehr Engagement für die Einhaltung der Maskentragepflicht, stringenteres Freihalten von Sitzen für einen maßvollen Abstand sowie, jawohl, Herr Kollege Pressesprecher, die Sitzplatzreservierungspflicht! Einige Beispiele:

„Menschen dicht an dicht im Abteil. Keine Kontaktverfolgungslisten. Die Bahn fühlt sich nicht zuständig, für die Einhaltung der Maskenpflicht zu sorgen. Aber die Griffe werden desinfiziert, super, DAS könnte ich sogar selbst tun, aber der aufgezwungenen Nähe zum maskenlosen Sitznachbarn bin ich schutzlos ausgeliefert. Bahnfahren in Corona-Zeiten: NEIN DANKE! OHNE MICH!!!“

„die bahn setzt nicht die maskenpflicht der bahnreisenden um. ich kann verstehen, dass die schaffner das nicht auch noch leisten können. warum stellt die bahn nicht security leute ein, die für die einhaltung der regeln sorgen. so lange sie das nicht tun , werde ich mit dem auto fahren und nicht mit der bahn. was ich bisher sehr gern getan habe.“

„Ich fühlte mich ausgeliefert, gefährdet. Aus einem fahrenden Zug kann man nicht aussteigen. Warum gibt es in den Zügen z.Zt. keine Platzkartenpflicht gekoppelt mit einer Reduzierung der Plätze- so, dass die Abstandsregel eingehalten werden kann?“

„Das Allerwichtigste, nämlich die Abstandsregel, kann und wird in der Bahn nicht eingehalten! Und zwar, weil es keine Reservierungspflicht gibt und jeder einfach einsteigen und mitfahren kann. Dann nützt mir mein reservierter Platz auch nichts, wenn drum herum alle Plätze besetzt sind! Ich habe zwei Bahnfahrten hinter mir, bei denen jeweils ca. 90% der Plätze belegt waren. Wie soll ich denn da Abstand halten??“

Von Hermann Schmidtendorf, Chefredakteur bahn manager

Artikel Redaktion Eurailpress
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