Interviews

Libor Lochman

Nachteil für Schiene ohne Vorteil für Sicherheit

Libor Lochman, Exekutivdirektor des europäischen Eisenbahnverbandes CER, zu den möglichen Konsequenzen der Einführung einer Reisendendatenerhebung im internationalen Hochgeschwindigkeitsverkehr 

Herr Lochman, die belgische Regierung will die Erhebung der Reisendendaten auch im Eisenbahnfernverkehr zur Pflicht machen. Was würde dies für die Eisenbahn- und die Infrastrukturunternehmen bedeuten?

Die Bahn ist ein Verkehrssystem, das auf die Beförderung großer Fahrgastmengen ausgerichtet ist. Die Einführung eines Systems zur Erfassung der Daten aller Reisenden, die mit internationalen Hochgeschwindigkeitszügen unterwegs sind, wäre nur mit sehr weitgehenden Veränderungen möglich. Eine Registrierungspflicht würde bedeuten, dass die Identität jedes Reisenden beim Ein- und Aussteigen überprüft werden müsste – und das an allen Türen des Zuges. Dafür fehlt an den meisten Bahnhöfen die Infrastruktur. Einmal abgesehen von den notwendigen baulichen Veränderungen wäre viel zusätzliches Personal erforderlich, um die Identität der Reisenden zu überprüfen. Tickets dürften nur über bestimmte autorisierte Vertriebskanäle verkauft werden und würden nur für einen bestimmten Zug gelten.

Welche Auswirkungen hätte das auf die Attraktivität der Eisenbahn?

Jede Maßnahme, die zusätzliche  Hürden, längere Reisezeiten und höheren Ticketpreise bringt, ist unangenehm. Die Bahn würde Attraktivität und damit auch Kunden verlieren. Der Europäische Fahrgastverband hat vor kurzem in einem Brief an den Verkehrsausschuss des Europäischen Parlaments sehr ähnlich argumentiert. Kontrollen verursachen voraussichtlich auch Warteschlangen, die eine Gefahr für die Sicherheit sein können. Das führt zu einem Paradox: Maßnahmen zur Steigerung der Sicherheit gefährden die Sicherheit. Zeitaufwendinge Identitätskontrollen für besimmte Verkehrsangebote brächten den Bahnen also klare Wettbewerbsnachteile.

Werden nicht ohnehin schon die Reisendendaten zusammen mit den zugehörigen Daten aus dem Zahlungsverkehr erhoben und gespeichert?

Reisendendaten werden in Europa nicht automatisch von Bahnunternehmen erhoben. Selbst über Kunden, die ihr Ticket online kaufen, sind Informationen nur sehr begrenzt verfügbar. Eine große Zahl von Kunden nutzt die „turn up and go“-Möglichkeit. Sie kaufen Tickets in letzter Minute oder erst im Zug. 

Im Reiseverkehr durch den Kanaltunnel mit Eurostar werden Daten erhoben. War das bisher ein Hindernis?

Der Reiseverkehr durch den Kanaltunnel ist ein sehr spezifischer Fall. Nur Reisende, die den Kanaltunnel und somit die Schengen-Außengrenzen überqueren, müssen sich einer Sicherheits-, Ein- und Ausreisekontrolle unterziehen. Diese Anforderungen haben zu einer einzigartigen Gestaltung der Terminals geführt, die praktisch nicht zu kopieren ist. Und sogar Eurostar ist nicht im Besitz aller Reisendendaten.

Wie hoch stufen Sie den Sicherheitsgewinn durch ein solches System der Fahrgast-Datenerhebung ein?

Einen Sicherheitsgewinn kann es nur geben, wenn die Maßnahmen in einer ganzheitlichen und verhältnismäßigen Weise angewendet werden. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, ohne Identitätskontrolle nach Belgien einzureisen. Identitätskontrollen in grenzüberschreitenden Hochgeschwindigkeitszügen würden die Sicherheit nicht steigern. Potentielle Gefährder können die Kontrollen umgehen, indem sie mit regionalen Bahnen oder Bussen oder mit dem Auto reisen. Wir sind davon überzeugt, dass nur ein koordinierter europäischer Ansatz und gemeinsam erarbeitete Maßnahmen Erfolg haben würden. Dazu gehört die europaweite  Koordination zwischen Geheimdiensten und der Polizei.

Können Ihrer Ansicht nach einzelne Mitgliedstaaten ein solches System einführen und für wie realistisch halten Sie diese Möglichkeit?

Nationale Vorschriften zur Erhebung von Reisendendaten und systematische Identitätskontrollen sind schädlich für den Reiseverkehr und die Pendlerströme, und war nicht nur in Belgien, sondern in allen EU-Mitgliedstaaten. Die Datenerhebung würde den Weg zu einem europäischen Eisenbahnbinnenmarkt erschweren und die Schiene im Wettbewerb mit der Straße benachteiligen. Und das alles, wie bereits erwähnt, ohne dass sich dadurch die Sicherheit der Bevölkerung verbessert. Aus diesem Grund finde ich die mögliche Einführung einer solchen Maßnahme sehr fragwürdig.

 

Artikel von Interview aus Rail Business, Ausgabe 5/17
Artikel von Interview aus Rail Business, Ausgabe 5/17