Interviews

Prof. Dr.-Ing. Nils Nießen

„Reisezeit ist Lebenszeit"

Prof. Dr.-Ing. Nils Nießen ist Vorsitzender des neuen Fachbeirats Bahntechnik beim Verein Deutscher Ingenieure (VDI). Sein Ziel ist es, die Bahntechnik als Zukunftstechnik zu verankern und interdisziplinär die Reisekette für die Fahrgäste zu optimieren.


Die VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik hat seit November 2015 wieder einen Fachbeirat Bahntechnik. Sie wurden zum Vorsitzenden gewählt. Was hat sich der Fachbeirat für die kommenden Jahre vorgenommen?
Die konstituierende Sitzung des Fachbeirats fand im November statt. Unsere Arbeit haben wir zu Jahresbeginn aufgenommen und werden im Laufe des Jahres unsere Arbeitspläne entwickeln. Fest steht, dass wir auf jeden Fall interdisziplinär arbeiten werden.

Interdisziplinär, also verschiedene Wissenschaftszweige gemeinsam?
Nicht nur Wissenschaftszweige. Uns geht es um das Gesamtsystem Bahn. Interdisziplinär bedeutet, dass wir uns mit Themen aus allen Bereichen, also dem Fahrzeugbau, der Infrastruktur und dem Betrieb befassen werden. Interdisziplinär bedeutet aber auch und das ist mir besonders wichtig, dass sich nicht nur Wissenschaftler treffen, sondern dass auch Vertreter aus der Bahnindustrie und den zuständigen Behörden beteiligt sind. Das komplexe Zusammenspiel aller macht die Bahn als Verkehrssystem so spannend – dies soll sich auch im Fachbeirat Bahntechnik widerspiegeln.

VDI und Bahntechnik haben beide eine lange, zum Teil auch gemeinsame Geschichte. Warum die Neugründung des Fachbeirates jetzt?
Mobilität und Verkehr haben in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung. Die VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik befasst sich mit allen Fragen rund um das Thema Mobilität. Es gibt einen Fachbeirat Luft- und Raumfahrttechnik, 2015 gründete sich der Fachbeirat Schiffbau und Schifftechnik. Deshalb war es meines Erachtens an der Zeit, auch die Bahntechnik über einen Fachbeirat wieder beim Verein Deutscher Ingenieure zu verankern.

Wie wird die Arbeit des Fachbeirates aussehen?
Wir möchten uns 2016 regelmäßig treffen, um uns über Aktuelles auszutauschen und eine Agenda für die kommenden Jahre aufzustellen.

Zeichnen sich heute schon konkrete Themen ab?
Ein großes Thema wird sein, wie wir die Attraktivität und Akzeptanz der Schiene als Verkehrsweg steigern können. Schienenlärm wird sicher eine Rolle spielen. Außerdem werden wir uns sicher fragen, wie das System Bahn der Zukunft aussehen wird. Wir werden uns deshalb auch mit moderner Leit- und Sicherungstechnik auseinandersetzen. In all diesen Bereichen werden wir die Branche begleiten, Probleme aufgreifen und an zukunftsorientierten Entwicklungen arbeiten.

Attraktivität und Akzeptanz der Schiene als Verkehrsweg steigern – wo liegt Ihrer Meinung nach hier das Problem?
Wer im Eisenbahnwesen tätig ist, dem hängt das Image der Nostalgie an. Viele denken bei Eisenbahntechnik an Dampfloks oder Modelleisenbahnen, auf keinen Fall jedoch an Zukunftstechnologien – auch wenn wir wissen, dass dies nicht so ist. Heutzutage strahlen Auto und Flugzeug Dynamik aus, jedoch nicht die Bahn. Wir wollen zeigen, dass die Bahn nicht stehengeblieben ist und dass Bahntechnik eine moderne Wissenschaft und Industrie darstellt.

In der Realität ist es doch tatsächlich so, dass die Innovationen, die heute die Menschen interessieren, in der Automobilindustrie stattfinden.
Das sehe ich anders. Um welche Innovationen geht es denn augenblicklich in der Automobilindustrie? Um E-Mobilität und autonomes Fahren. Bei beiden Themen sind wir bei der Bahn der Automobilindustrie weit voraus. In der Außenwirkung des Systems Bahn kommt das jedoch leider nicht so an. Wenn die Menschen an die Bahn denken, denken sie meist an Verspätungen und Unzuverlässigkeit. Staus und damit Verspätungen im Straßenverkehr werden dagegen nicht so negativ bewertet.

Studien zeigen, dass das Auto als Statussymbol bei der jungen Generation an Bedeutung verloren hat.
Die nächste Generation wird Mobilität als reine Dienstleistung verstehen und ohne zu überlegen das jeweils für ihre Zwecke günstigste Verkehrsmittel wählen, egal ob Auto, Bahn, Flugzeug oder Fahrrad. Einzeltickets werden der Vergangenheit angehören. Ein elektronisches Gerät wie das Smartphone registriert die Nutzung der einzelnen Verkehrsträger. Erst am Ende des Monats erhält der Nutzer eine Gesamtrechnung für seine Mobilität. Deswegen ist es so wichtig, dass die Bahn Bestandteil der sich immer weiter vernetzenden Systeme ist.

Der Fachbeirat Bahntechnik beim VDI ist also auch ein Mittel, sich mit anderen Verkehrsträgern zu vernetzen?
Auf jeden Fall. Wir wollen und werden uns mit den anderen Fachbeiräten vernetzen. In dem Maße, wie die einzelnen Verkehrsträger aus Kundensicht Bestandteil einer Reisekette werden, müssen auch die technischen Regeln und Normen der einzelnen Verkehrsträger miteinander kompatibel sein. Hier kann der VDI eine wichtige Rolle spielen.

Eine durchgehende Reisekette, bei dem der Kunde sich das jeweils passende Verkehrsmittel aussucht – das hört sich sehr harmonisch an. Doch die Verkehrsmittel stehen in Konkurrenz zueinander. Was muss die Bahn bieten, damit sich die Kunden für Zug statt Auto oder Flugzeug entscheiden?
Die Bahn muss dem Kunden mehr bieten als nur die reine Beförderung. Reisezeit ist Lebenszeit. Dies erfordert neue Konzepte. Ein Wunsch der Kunden ist beispielsweise, immer digital verbunden zu sein. Auch die Nachfrage nach Bandbreiten, mit denen man während der Zugfahrt ungestört Videos betrachten kann, wird zunehmen. Diesen Wünschen muss die Bahn Rechnung tragen, dann ist der Fahrgast auch bereit, den Preis zu zahlen. Wichtig wird auch die Verknüpfung der Verkehrsträger mit autonom fahrenden Fahrzeugen werden. Diese lassen beispielsweise den Fahrgast direkt am Bahnsteig aussteigen und parken sich dann autonom im Parkhaus. Umgekehrt wird der Fahrgast direkt bei Einfahrt des Zuges am Bahnsteig abgeholt.

Ein reibungsloses Zusammenspiel aller Verkehrsträger während der Reise ist natürlich der Traum aller Fahrgäste. Doch heute klappt es ja nicht einmal bei der Bahn. Wer die Chance haben will, pünktlich zu einem Geschäftstermin zu kommen, nimmt besser keine Verbindung, bei der man umsteigen muss.
Das Risiko des Umsteigens wird von den Kunden kritisch wahrgenommen. Umsteigevorgänge werden von den Fahrgästen negativ bewertet. Ziel muss deshalb sein, die Fahrpläne so zu gestalten, dass möglichst viele umsteigefreie Verbindungen angeboten werden können. Eine langfristige Vision wäre ein Zugverband, der sich auf seiner Fahrt aufteilt. Die einzelnen Wagen würden dabei autonom geroutet. Heute ist dies jedoch noch Zukunftsmusik. Hierzu wäre ein anderes Leit- und Sicherungssystem notwendig. Die Betriebssteuerung in der Disposition müsste stark ausgebaut und das Schienennetz insgesamt automatisiert werden.

Sie forschen unter anderem zur Frage, inwieweit die notwendigen Daten für eine weitergehende Automatisierung vorliegen. Wie sieht es hier für Deutschland aus?
Die Datenstandardisierung in Deutschland befindet sich auf einem guten Niveau. Doch die Digitalisierung schreitet weiter voran. Wir müssen aus den vorhandenen Daten die richtigen Daten identifizieren und die „schmutzigen“ Daten aussortieren können. In der Wissenschaft basieren unsere Berechnungen auf idealen Daten. Doch in der Realität gibt es falsche Daten im System. Große Datenmengen müssen deshalb bereinigt werden.

Die Deutsche Bahn strukturiert sich um. Unter anderem werden Mitarbeiter auch an der Pünktlichkeit der Züge gemessen und entlohnt. Dr. Grube strebt dabei an, dass 80 % der Züge im Fernverkehr pünktlich sein sollen, das heißt, jeder 5. Zug kann immer noch zu spät sein.
Ich finde, dass man sich bei der Pünktlichkeit langfristig ehrgeizigere Ziele setzen könnte. Wenn man seinen Kunden etwas bieten will, sollte die Quote über 80 % liegen, zumal in Deutschland ein Zug noch mit einer Verspätung von 5 : 59 min als pünktlich gilt – in der Schweiz sind es 3 Minuten. Im Nahverkehr liegen wir heute bereits schon bei etwa 95 %. Die Reisenden wollen Pünktlichkeit und Anschlusssicherheit.

Hilft hier der neue Mobilfunkstandard 5G?
Es ist unglaublich, was 5G an Möglichkeiten bietet. Alles kann in Echtzeit miteinander kommunizieren. Vor 10 Jahren konnten wir uns dies noch nicht vorstellen, doch wir werden ein System Bahn vorfinden, in dem die Technik autonom miteinander kommuniziert. So wird es möglich, Fahrzeuge optimal aufeinander abzustimmen, zum Wohle der Reisenden. Hieran zu forschen macht großen Spaß. Dies ist eines der Themen, bei denen interdisziplinäres Arbeiten sehr wichtig ist.

Außer Ihnen gibt es augenblicklich 8 Mitglieder im Fachbeirat Bahntechnik. Sind Sie offen für weitere Mitglieder?
Auf jeden Fall. Dies wird die Attraktivität des Fachbeirates steigern. Es werden sicher noch weitere Mitstreiter hinzukommen. Wir wollen mit dem Fachbeirat beim VDI gerade auch junge Ingenieurinnen und Ingenieure ansprechen, die hier an spannenden Fragestellungen arbeiten und sich gut vernetzen können.


(Das Gespräch führte Dagmar Rees.)


 

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Artikel von Interview aus der ETR Ausgabe 1+2/2016
Artikel von Interview aus der ETR Ausgabe 1+2/2016