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Isabel Vollers: ETCS und ATO - Das neue Normal

Quelle: Alstom

Isabel Vollers ist Head of Mainline Wayside & Infrastructure DACH bei Alstom. Durch Digitalisierung und ATO kann Kapazität und Stabilität des Verkehrs erheblich gesteigert werden, zeigen Praxiserfahrungen. Auch wird der Energiebedarf deutlich reduziert.

Sie sagten vor Kurzem: „Digitalisierung und damit ATO muss das neue Normal sein“. Was ist der Weg zu diesem neuen Normal?

Hier müssen wir zwischen der Digitalisierung und der darauf aufbauenden Automatisierung unterscheiden. ERTMS/ETCS als grundsätzliche Digitalisierung des Netzes muss so bald als möglich ausgerollt werden, gerade auf den Korridoren, ohne Ausnahmen. Nur so können wir die Ziele Kapazitätserhöhung, Stabilität im Betrieb, Pünktlichkeit und Energieeinsparung auch erreichen. ATO, also Automatic Train Operation, ist „Normal“, weil die Lösung technisch reif ist, und sie sofort weitere Energieeinsparung und Kapazität erlaubt.

Was wird für die schnelle Einführung von ETCS gebraucht?

Zum einen eine ausreichende Finanzierung, sowohl Strecken- als auch Zugseitig. Ohne diese Investitionen müssen wir gar nicht erst anfangen, über Systemerneuerung zu sprechen. Zum anderen müssen die Prozesse, also auch die Regelwerke, angepasst werden. Mit den augenblicklichen Strukturen sind wir nicht in der Lage, die Digitalisierung in der notwendigen Geschwindigkeit umzusetzen. Der dritte Punkt ist Innovationsfreudigkeit. Diese ist bei der Bahn unzweifelhaft vorhanden. Im Sektor haben wir viele Ideen, allerdings fehlt uns häufig die Brücke in die technische Umsetzung. Hier müssen wir kreativer werden und das Trial und Error-Prinzip ermöglichen, natürlich ohne dabei die Sicherheit zu gefährden.

Wenn die Digitalisierung umgesetzt ist, ist dann ATO problemlos möglich?

Fahrzeugseitig müssen wir für ATO keine zusätzliche Technik einsetzen – hier wären sofort, ohne zusätzliche Kosten, Kapazitätserhöhungen von 5 % und mehr möglich. Doch wir müssen bei ATO die Bevölkerung „abholen“, durch Informationen zur Technik und durch Transparenz. Das sollte nicht nur abstrakt passieren. Lernen findet auch über das Sehen, Anfassen und Erleben statt. Wir haben auch in Europa und Deutschland zunehmend Metros, die autonom fahren; oder auch das altbekannte Beispiel der Automated People Mover an den Flughäfen Frankfurt und München, hier ist das neue Normal schon erlebbar. Auch gilt: je häufi ger ich etwas gehört habe, desto mehr vertraue ich darauf, dass die Information richtig ist.

Die TSI, also die Technical Specifications for Interoperability der EU, werden augenblicklich überarbeitet. Decken sie dann alle Voraussetzungen für ATO ab?

Wie bei allen europäischen Standards dauert alles seine Zeit und es gibt viele Stakeholder mit unterschiedlichen Interessen. Bisher sieht es so aus, als wenn die neue Fassung erst einmal für die nächsten Schritte ausreichen wird. Danach muss weiter daran gearbeitet werden. Es ist auf jeden Fall gut anzufangen. 2022 mit den neuen TSI wird ein wichtiger Meilenstein für ATO.

Die technischen EU-Standards sind das eine, die jeweiligen Regelwerke in den einzelnen Ländern das andere. Denn auch wenn die technischen Standards EU-weit einheitlich sind – solange sich die betrieblichen Regelwerke in den einzelnen Mitgliedsländern unterscheiden, gibt es immer noch keinen einheitlichen europäischen Eisenbahnraum.

Wir beobachten, dass es insgesamt einen Push für mehr Interoperabilität gibt. Die Akteure in den einzelnen Mitgliedsländern sprechen mehr miteinander. Wir tauschen uns aus, was technisch möglich ist, und lernen voneinander. Wir gleichen uns auf dem obersten ETCS-Level wieder an. Die Aufgabe ist, die Standards so auszurichten, dass sie die Regelwerke der Länder berücksichtigen und gleichzeitig das europäische System umsetzen.

Eine Voraussetzung ist ja auch, dass es keine proprietären Systeme mehr gibt. Sind hierzu die Hersteller bereit?

Anfänglich war besonders die Seite der Industrie natürlich besorgt was passiert, wenn alle Systeme und Teilsysteme interoperabel sind. Das hat sich geändert. Der Bahnsektor, gerade in Deutschland, entwickelt sich sehr dynamisch. Die Industrie wird an ihre Grenzen gehen müssen um die Digitale Schiene in dem geplanten Tempo ausrollen zu können. Die Eintrittsbarrieren in die Branche sind sehr hoch, die Anzahl der Anbieter begrenzt – Wettbewerb ist förderlich für den Markt. Wir bei Alstom haben sehr gute Produkte und sind deshalb auch die Nummer Eins im ETCS Onboard-Markt. Im Wayside Bereich stehen wir eher noch am Anfang was ETCS betrifft, wir sind jedoch auf Wachstumskurs, stehen in den Startlöchern für den Roll-Out und werden auch hier eine wichtige Rolle einnehmen.

ATO wird weltweit nicht nur im Metro-Verkehr, sondern auch schon im Regionalverkehr eingesetzt, mit GoA-2, also noch mit einem Triebfahrzeugführer, der aber Teile seiner Aufgaben an die Steuerung abgibt. Gibt es Erkenntnisse in Bezug auf Kapazitätsgewinne durch ATO?

Die Zahlen, die wir aus dem Nah- und Regionalverkehr bekommen, sind bahnbrechend. Ein Beispiel ist der RER A, Europas meistgenutzte Pendelstrecke ins Pariser Umland. Hier hat sich durch ATO die Stabilität im Betrieb von 80 % auf über 93 % gesteigert. Alle zwei Minuten fährt ein Zug, die Fahrzeit verkürzt sich um 3 Minuten. Bei der S-Bahn Stuttgart haben die Simulationen errechnet, dass insgesamt im Netz statt 24 bis zu 30 Zügen pro Stunde abfertigt werden können durch den Einsatz von ATO GoA Level 2. Bei GoA Level 4 planen wir sogar bis zu 36 Züge in einer Stunde abfertigen zu können, das ist aber noch eine Vision der Zukunft.

Sind Erkenntnisse aus dem Nahverkehr 1:1 auf den Fern- oder Güterverkehr übertragbar?

Bei Metro-Verkehren können wir mit Digitalisierung und ATO zum Beispiel eine Taktverdichtung auf 70 Sekunden erreichen – das ist natürlich nicht 1:1 auf den Fernverkehr übertragbar. Abhängig von der Bremskurve und der Geschwindigkeit ist der Headway im Fernverkehr größer. Prinzipiell ist das Konzept der Kapazitätserhöhung auf existierenden Netzen aber das Gleiche. Mit ATO ändern sich die Fahrprofile, wir fahren genauer und gleichzeitig flexibler. Kommt es zu einem unerwarteten Ereignis, können die Züge untereinander kommunizieren, so dass am Ende doch ein Großteil der Fahrgäste rechtzeitig ans Ziel kommt.
Der größte Unterschied zu Metro-Verkehren ist jedoch, dass die Züge sich nicht in einem geschlossenen System bewegen Hier kommt es häufiger zu ungeplanten Halten. Da bei ATO mit GoA-2 weiterhin ein Triebfahrzeugführer an Bord ist, ist dies kein grundsätzliches Hindernis und wir können die durch ATO möglichen Stabilitäts-und Kapazitätsgewinne ins Netz bringen.

40 % weniger Energie beim Fahren ist ja auch unter Klimaschutzperspektiven attraktiv.

Der Zug ist heute schon das umweltfreundlichste Verkehrsmittel. Um Emissionen zu reduzieren, haben wir im Regional- und Fernverkehr mit der grünen Mobilität noch weitere Hebel. Wenn wir Diesel- durch Batterie- oder Wasserstoffzüge ersetzen, verbessern wir die Klimaschutzbilanz der Schiene noch weiter.

Bisher sprachen wir über GoA-2. Wäre GOA-4, also vollautomatisiertes Fahren, auch außerhalb geschlossener Systeme und auch im Mischverkehr möglich?

Grundsätzlich ja. Doch GoA-4 ist nicht zwingend notwendig. Schon die Kombination von ATO/GoA-2 mit ETCS Level 3 und einem CTMS birgt großes Optimierungspotential für Vollbahnen.

Augenblicklich ist im TEN-T nur die Einführung von ETCS Level 2 geplant, ETCS Level 3 ist noch in weiter Ferne. Bis dahin sehen Sie die Einführung von Level 3 als Lösung unter anderem für den ländlichen Raum. Warum?

Wenn wir mit ETCS Level 3 die Intelligenz komplett ins Fahrzeug verlagern, haben wir in der Infrastruktur weder Signale noch Gleisfreimeldeanlagen. Dadurch brauchen wir auf der Strecke auch keinen Strom – wir können Tausende von Kilometer an Kabeln sparen. Die Anschaffungskosten und auch die Instandhaltungskosten für die Infrastruktur sind also insgesamt viel geringer. Damit steigen die Chancen für die Aufrechterhaltung beziehungsweise Reaktivierung von ansonsten wirtschaftlich grenzwertigen Strecken.

Was sollte in Richtung ETCS Level 3 unternommen werden?

Grundsätzlich gibt es schon einige Beispiele für den Einsatz von ETCS Level 3. Gerade in Deutschland haben wir ein wunderbares, wenn auch etwas exotisches Beispiel, die Wuppertaler Schwebebahn. Als Unternehmen Alstom haben wir zudem eine Pilotinstallation in Schweden, die dort mit echtem ETCS Level 3 fährt. In beiden Fällen war es die reduzierte Infrastrukturausrüstung, die für den Kunden entscheidend war. In Deutschland wird viel über ein ETCS Level 3 Hybrid gesprochen, also eine Mischung von ETCS Level 2 und ETCS Level 3. Durch den Einsatz der Hybrid-Lösung kann man ebenfalls die Kapazität erhöhen, auch im Mischverkehr, aber im Gegensatz zum echten Level 3 nur bedingt Kosten sparen, da die streckenseitige Ausrüstung ähnlich ist. Dennoch ist ETCS Level 3 Hybrid erst einmal eine gute Lösung für Deutschland, denn sonst müssten wir das Land aufteilen in Level 2 und Level 3, da man den Verkehr nicht ohne weiteres mischen kann.

Ich höre immer, dass die Digitale Automatische Kupplung (DAK) eine Voraussetzung für ETCS Level 3 ist. Ist das zwingend so?

Zwingend nicht, aber eine gute Voraussetzung für die Zugvollständigkeitsermittlung. Ohne DAK muss man über andere Lösungen hierfür nachdenken.

Was würden Sie sich in Bezug auf die Einführung von ETCS wünschen?

Ich habe viele Jahre lang in der Strategie gearbeitet, also einem Big-Picture-Job. Ich sehe das Einzelne in Bezug auf das große Ganze. Umgekehrt enthält eine Vision viele Einzelpläne, mit denen nach und nach der große Plan verwirklicht wird. Wir brauchen einen Gesamtplan für Deutschland – und am besten auch darüber hinaus – der die ganzen Pläne rund um ERTMS/ETCS miteinander vereint. Aus unseren Erfahrungen in der Vergangenheit haben wir gelernt, dass es in Europa mit seinen vielen Ländern und Regionen nicht die einzig richtige Lösung für alle geben kann. Doch wir müssen erreichen, dass bei aller Verschiedenheit die Technik miteinander kommunizieren kann. Auf keinen Fall sollte uns jedoch das große Ganze davon abhalten, im Kleinen anzufangen und dort gute Lösungen umzusetzen – die richtige Richtung ist erstmal entscheidend, siehe Stuttgart oder ScanMed.

Bei vielen Reaktivierungsinitiativen auf dem Land stehen Vereine hinter den Bemühungen, und meist das Interesse, in der Region wieder Personenverkehr auf der Schiene anzubieten. Wäre es dort eine Option, also in einem begrenzten Gebiet und mit Fahrzeugen, die nur dort zum Einsatz kommen, gleich ETCS Level 3 zu starten?

Bevor eine solche Entscheidung getroffen wird, muss man einige Fragen stellen, etwa: Wo und wie verläuft das Streckennetz? Ist es auf ein Bundesland begrenzt? Gibt es Verbindungsstellen mit anderen Strecken? Von den Antworten hängt letztendlich ab, ob eine reine ETCS Level 3 Ausrüstung Sinn machen könnte. Auch hier gilt, strecken- und zugseitige Modernisierung geht Hand in Hand. Wie bereits erwähnt, eine technische Lösung existiert und ist stellenweise schon implementiert – solange die Streckenmerkmale passen, sind wir bei Alstom bereit.

Eine private Frage: Was hat sich für Sie persönlich in der Corona-Pandemie verändert?

Die Pandemie hatte verschiedene Phasen und noch sind wir nicht am Ende – generell gesprochen ist der Alltag auf eine Art agiler geworden. Die wohl positivste Veränderung für mich persönlich ist es, mehr Zeit mit meiner Familie verbringen zu können. Gemeinsame Outdoor-Aktivitäten haben einen neuen Stellenwert eingenommen, dies werden wir beibehalten. Zudem reise ich bewusster – privat und beruflich.

Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 12/2021 führte Dagmar Rees.

Artikel Redaktion Eurailpress
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