Marschbahn Hamburg – Sylt: Schon wieder defekte Wagen und Infrastruktur

Eine Traxx-Diesellokomotive mit Personenzug wartet auf der Marschbahn in Niebüll auf die Weiterfahrt nach Sylt; Quelle: H. Schmidtendorf

Es klang zu schön. „8500 zusätzliche Sitzplätze für Berufspendelnde und Urlaubsreisende“ versprach die Deutsche Bahn am 6. Mai 2021 in einer Presseerklärung. Damit sollten Zugstaus und Verspätungen auf der Bahnlinie von Hamburg über den Hindenburgdamm nach Westerland auf der Insel Sylt aufgelöst werden.

Dazu will die DB Regio Schleswig-Holstein bis zum 1. November 2021 täglich mit zusätzlichen Doppelstockwagen bei 15 Zügen die Kapazitäten von bisher 500 Sitzplätzen auf 620 Plätze erweitern. Außerdem sollen 76 statt 30 Züge mit doppelter Wagenkapazität fahren. Das scheint dringend geboten. Weil auf Sylt Wohnungsmieten teuer sind, pendeln täglich mehrere tausend Beschäftigte vom Festland auf die Insel. Zu Urlaubszeiten werden die Züge schnell zu Sardinendosen. Die Zusatzkosten in Höhe von rund 8,7 Millionen Euro wollen sich das Land Schleswig-Holstein und die DB teilen.

Verkürzte Züge, Dauerverspätungen

Doch vorerst scheint das gründlich schief zu gehen. Der Inselbürgermeister, der Dehoga-Bezirksverband Sylt, der Verein Sylter Unternehmer sowie die Sylt Marketing GmbH (SMG) schrieben dem schleswig-holsteinischen Verkehrsminister Bernd Buchholz, sie beobachteten „verkürzte Zugleistungen - insbesondere zu den pendlerrelevanten Zeiten, eine Zunahme technischer Ausfälle, Schwierigkeiten beim Einsatz der bereitstehenden Betriebsreservezüge und in der Folge erneut regelmäßige Verspätungen“. Der Sprecher der Sylter Pendler-Initiative Achim Bonnichsen forderte die Einhaltung der Pandemie-Abstandsregeln: „Wenn statt zehn bis zwölf Waggons nur sechs angekoppelt sind, stehen wir in den Gängen und vor den Türen dicht beieinander, teilweise nur 40 bis 50 Zentimeter voneinander entfernt.“

Ein Déjà vu. Bereits 2017 war Bonnichsen und seinen Pendler-Aktivisten der Kragen geplatzt – einige hundert MitstreiterInnen blockierten eine Zeit lang den Bahnverkehr auf der Marschbahn genannten Regionallinie R6 von Hamburg /Itzehoe nach Westerland. Sie protestierten damit gegen volle und schmutzige Züge, Verspätungen und Zugausfälle. Damals waren nicht nur Reisezugwagen, sondern auch Lokomotiven immer wieder ausgefallen. An einem Waggon war die Kupplung abgerissen, das Gutachten habe Korrosion und einen unterlassenen Wartungsschritt als Ursachen ausgemacht, erklärte seinerzeit Dennis Fiedel, Sprecher der Nahverkehrsgesellschaft des Landes Nah.sh.

Die NAH.SH ist jene Institution, über die das Land Schleswig-Holstein die Bestellung seines Nah- und Regional-Verkehrs organisiert. Zum Fahrplanwechsel 2016 hatte sie nach erfolgter Ausschreibung der DB Regio die Zugführung übertragen. Diese übernahm den Betrieb von der zu Transdev gehörenden Nord-Ostsee-Bahn NOB, unter deren Regie es zu zahlreichen Klagen gekommen war. Bis heute akkumulieren sich Probleme mit der Infrastruktur und mit dem eingesetzten Zugmaterial. 

Investitionsstau auf der Marschbahn

Derzeit reicht der Fahrdraht auf der Marschbahn nur von Hamburg bis Itzehoe. Dort müssen vor die Züge Diesellokomotiven gespannt werden, was fast eine Viertelstunde Zeit kostet. Über Jahrzehnte wurde in die Bahnstrecke kaum investiert – jetzt gibt es einen Investitionsstau. Inzwischen werden für 140 Millionen Euro 200 Kilometer Gleise erneuert. Für Bahnübergänge, Brücken und die Signaltechnik kommen weitere 20 Millionen dazu. DB Netz als Verwalter der Bahn-Infrastruktur hofft, die Grundsanierung bis 2022 abzuschließen. Doch noch bleibt die Infrastruktur anfällig. Schleswig-Holsteins Verkehrsstaatssekretär Thilo Rohlfs bestätigte die teils massiven Verspätungen und Zugausfälle der vergangenen Tage. Die Ursache dafür seien Signal-, Weichen- und Bahnübergangsstörungen sowie Schäden an einigen Doppelstockwagen.

Zwar ist das Rollmaterial vergleichsweise neu. Die eingesetzten Personenwagen der Bombardier-Type „Married Pair“ wurden ab 2005 extra für den Einsatz auf der Marschbahn konzipiert und gebaut. Als Zugmaschinen wurden ab 2015 bei Bombardier Dieselloks des Typs TRAXX DE ME - Baureihe 245.2 – neu beschafft. Verantwortlich für die Auswahl des Rollmaterials zeichnet die landeseigene Nahverkehrsgesellschaft. Doch die Anschaffungen waren womöglich Fehlkäufe.

Sind Loks und Wagen Fehlkäufe?

Die Personenzüge bestehen aus jeweils zwei fest miteinander verbundenen Wagen. Die Doppeleinheiten sind nicht durchgängig, jedoch untereinander mit Schalenmuffenkupplungen verbunden. Wenn also ein Wagenteil einen Defekt hat oder eine Kupplung zwischen den Wagen reißt, muss schnell der komplette Zug abgestellt werden. Nur die beiden Endwagen weisen normale Schraubenkupplungen zur Verbindung mit einer Lokomotive auf. Diese Züge fehlen dann eine Zeit lang - Reservezüge können die Sitzplatz-Ausfälle demnach nur bedingt kompensieren.

Doch auch die beschafften Traxx-Lokomotiven fielen immer wieder negativ auf. Wenn sie ausfallen, müssen bis heute die eigentlich zur Ablösung bestimmten soliden Dieselloks der Alt-Baureihe 218 (gebaut zwischen 1968 und 1979) in Doppeltraktion vor die Wagen gespannt werden.  Bereits im ersten Betriebsjahr überhitzte nach kurzer Einsatzzeit der Transformator einer der Traxx-Loks. Mehrere Male kam es zu Rauchentwicklung und Bränden.

„Im Sommer 2016 wies Bombardier die Betreiber an, die Transformatortemperatur regelmäßig zu überwachen und die Fahrzeuge bei einer Temperatur über 155 °C außer Betrieb zu setzen, bis die Baugruppe unter 100 °C herunter gekühlt ist“, heißt es bei Wikipedia. „Schon aufgrund dieser Anweisung kam es zu zahlreichen Ausfällen und Verspätungen. Neben der Überhitzung traten 2017 weitere schwere Mängel auf – darunter Öllecks, verstopfte Rußpartikelfilter aufgrund von Softwarefehlern und Kühlwasserverluste –, die wiederum zu Ausfällen und Verspätungen führten, so dass ab September 2017 sämtliche auf der Marschbahn eingesetzten Lokomotiven an Bombardier zur Überarbeitung zurückgegeben wurden.“

Land, Leasinggesellschaft, Werkstatt

Die Fahrzeuglage wird durch eine für Schleswig-Holstein spezifische Lösung zusätzlich kompliziert. Denn die Nahverkehrsgesellschaft selber kauft die Fahrzeuge über eine Leasinggesellschaft und verleiht sie dann an das mit dem Verkehr beauftragte Bahnunternehmen. Dieses kann sich also gegen technisch unzuverlässiges Rollmaterial gar nicht wehren. Als sich die vorherige Leasinggesellschaft aus dem Geschäft zurückzog, schrieb die Nahverkehrsgesellschaft den Wagenpool aus und gab dem Gewinner der Ausschreibung für diese Wagen eine Einsatzgarantie für ihre Restnutzungsdauer von 19 Jahren. Sollten sich die technischen Probleme nicht lösen lassen, wird man also noch lange von Zugausfällen hören. 

Gewinner der Ausschreibung war 2014 die Paribus Capital GmbH , welche dazu mit DIF Infrastructure III, einem Fonds der Amsterdamer Dutch Infrastructure Fund, eine Joint Venture gründete. Ein Bankenkonsortium aus Bayerische Landesbank, Credit Agricole Corporate and Investment Bank und Norddeutsche Landesbank stellte die Darlehensfinanzierung. Doch Paribus unterhält und repariert die Fahrzeuge nicht selber. Bei Vertragsantritt 2014 erläuterte Paribus Capital-Geschäftsführer Volker Simmering: „Ein weiterer Erfolgsfaktor ist unser Assetmanager Northrail, der die Fahrzeugflotte über die gesamte Laufzeit des Projektes von rund 20 Jahren intensiv betreuen wird.“

So lässt sich bei technischen Defekten trefflich streiten, wem der Schwarze Peter gebührt. Repariert Northrail schlecht? Sind die Fahrzeuge hoffnungslos fehlkonstruiert? Geben Paribus oder DB Regio ungenügende Anweisungen und Finanzen für Unterhaltungsmaßnahmen? Fehlt die qualifizierte Aufsicht der Landesgesellschaft? Mithin - ist die Aufsplittung der Verantwortung für Fahrbetrieb und Rollmaterial wirklich so „innovativ“ und „effektiv“, wie es in Schleswig-Holstein gerne erzählt wird?  

Land will elektrifizieren…

Ende April 2021 keimte zumindest für die Infrastruktur der Marschbahn Hoffnung auf. Schleswig-Holsteins Verkehrsminister Buchholz will die Elektrifizierung der Bahnstrecke von Itzehoe nach Westerland jetzt aus Mitteln für Nahverkehrsprojekte selber bezahlen. Genutzt werden soll dazu der jüngst stark vergrößerte Topf des Gemeindeverkehrsfinanzierungs-Gesetzes. Dann müsste das Land von den geschätzten Kosten in Höhe von 400 Millionen Euro nur etwa ein Zehntel selbst tragen. Minister Buchholz: „Bei einer Mitfinanzierung durch den Bund in Höhe von 90 Prozent schätzen wir die Chancen für eine Elektrifizierung der Marschbahn als relativ hoch ein.“

…Bund baut zweites Gleis

Bereits im März 2021 beauftragte das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) die DB mit dem dringlich erwarteten zweigleisigen Ausbau des Abschnittes Niebüll-Klanxbüll. Dieser ist inzwischen im Bundesverkehrswegeplan 2030 verankert und mit Kosten von rund 221 Millionen Euro beziffert. Darin ist auch die Zweigleisigkeit des knapp elf Kilometer langen Abschnitts auf Sylt zwischen Morsum und Tinnum bei Westerland eingerechnet. Dieser Ausbau wurde ebenfalls im Bundesverkehrswegeplan aufgenommen, aber noch nicht beauftragt.

Durch die Errichtung eines zweiten Gleises auf dem 13 km langen Streckenabschnitt kann die Geschwindigkeit von bisher 100 km/h auf 140 km/h erhöht und somit mehr Kapazität für den Zugverkehr geschaffen werden. Das ermöglicht zukünftig einen zuverlässigeren Bahnverkehr sowie kürzere Fahrzeiten, heißt es bei der Deutschen Bahn. Die Baumaßnahmen werden unter dem „rollenden Rad“ realisiert, also bei laufendem Bahnbetrieb auf der Strecke. Dabei werden auch acht Bahnübergänge, drei Eisenbahnüberführungen (Brücken) sowie zahlreiche Durchlässe und Leitungen entlang der Strecke angepasst.

Ruck-Zuck wird das allerdings nicht gehen. Erst einmal, so die DB, sind die Beschaffenheit des Bodens, notwendige Eingriffe in die Natur und verschiedene Varianten für das zweite Gleis zu untersuchen. Danach entscheidet der Deutsche Bundestag über die Fortführung des Projektes. Dieser wird später für die ausgewählte Variante, so die DB, voraussichtlich ein Maßnahmengesetz erlassen. Der Vorteil: Gegen ein Maßnahmengesetz könne nur per Verfassungsbeschwerde vorgegangen werden, nicht per Klage vor einem Verwaltungsgericht. Wie auch immer – konkrete Angaben zu Baubeginn und Inbetriebnahme des zweiten Gleises sind derzeit noch nicht zu geben. (red./hfs)

Artikel Redaktion Eurailpress
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