"Was im Personalmarketing zählt, ist Authentizität"

Auf der diesjährigen InnoTrans fand das erste Mal der Eurailpress Career Boost als offenes Forum für junge Talente statt. Foto: Messe Berlin GmbH

Die Personalstrukturen im Schienensektor haben sich längst von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt entwickelt. Die Konsequenz: Im Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter müssen Bahnunternehmen neue Wege gehen. Strategisches Recruiting und Personalmarketing rücken dadurch stärker denn je in den Fokus.

Im Mai verkündete das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) zusammen mit dem Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung in seinem Fachkräfte­report einen neuen Rekord: Die Zahl der offenen Stellen, für die es rechnerisch bundesweit keine adäquat ausgebildeten Arbeitslosen gab, ist im ersten Quartal 2022 auf gut 558 000 gestiegen. Auch der Bahnsektor ist von dieser Entwicklung betroffen. Das Basler Forschungsinstitut Prognos sagte bereits vor fünf Jahren voraus, dass in Deutschland bis 2040 bis zu 3,3 Mio. qualifizierte Arbeitskräfte fehlen könnten. Der „War for Talents“ zieht sich durch sämtliche Branchen – ein drastischer Begriff, der den aktuellen Status Quo jedoch treffend beschreibt. Auch auf die Schiene rollen massive Personalengpässe zu: Allein die Deutsche Bahn AG (DB) hat in diesem Jahr 21 000 offene Stellen zu besetzen. Dieser Trend ist dem Konzern zufolge kein vorübergehendes Phänomen: „Wir werden auch in den nächsten Jahren in ähnlichem Umfang einstellen, in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts werden es etwas weniger sein, weil dann die Babyboomer weitgehend im Ruhestand sein werden“, äußerte DB-Personalvorstand Martin Seiler Anfang diesen Jahres gegenüber dem Handelsblatt.

Ausbildungsmarkt spricht Bände
Ein zuverlässiger Indikator für die aktuelle Personalsituation im Schienensektor ist der Stellenmarkt: Laut einer Erhebung des Personalmarktforschungsunternehmens index Research wurden von Januar bis Juli 2022 deutschlandweit insgesamt knapp 10 000 Ausbildungsstellen nur für die Bahnbranche ausgeschrieben. „Das ist deutlich mehr als in den vergangenen drei Jahren“, so index-CEO Jürgen Grenz. „Eine Besonderheit ist, dass allein die Deutsche Bahn in den ersten sieben Monaten dieses Jahres über 85 % aller Ausbildungsplätze der Branche ausschrieb.“ Die restlichen 15 % teilen sich knapp 280 weitere Unternehmen aus dem Schienensektor. „Auch in der Bahnbranche sind Azubis schwer zu finden. Schließlich war die Geburtenrate in den letzten Jahrzehnten sehr niedrig, und immer mehr junge Menschen wollen studieren“, schlussfolgert Grenz. Dabei wisse jeder, dass nur mit handwerklich geschickten und technisch versierten Fachkräften die Verbesserung des Schienennetzes und die digitale Transformation gemeistert werden könnten.

Ursachen liegen weit zurück
Die Hintergründe, wie es zu den drohenden Personalengpässen kommen konnte, sind vielschichtig. Der Managementberater Gunther Wolf sieht die Verantwortung sowohl bei den Unternehmen als auch auf staatlicher Seite: „Schon Ende der 90er-Jahre war abzusehen, welche Effekte der demografische Wandel nicht nur für Sozialversicherungen, sondern auch für den Arbeitsmarkt haben wird. Allerdings wurde dieser Umstand damals weder von Politikern noch von Unternehmens- und Personalleitungen ernst genommen.“ Dass etwa in den Krisenjahren 2001 bis 2003 von unzähligen Unternehmen durch Massenentlassungen und Sozialpläne in gigantischem Ausmaß Personal abgebaut wurde, sei „schlichtweg dumm“ gewesen. Auch die DB hat in diesen Jahren zehntausende Stellen gestrichen. „Schon damals hätte die Politik Kurzarbeit erleichtern können, damit die Arbeitskräfte mit ihrem unternehmens- und produktbezogenen Wissen dem betreffenden Unternehmen nicht für immer verloren gehen“, so Wolf. Claus Weselsky, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), beobachtet, dass das Eisenbahnsystem in Deutschland trotz aller Bemühungen auf einen Fachkräftemangel zusteuert, der schon jetzt einen spürbaren systematischen allgemeinen Fachkräftemangel zur Folge habe. „Das heißt, dass für die Aufrechterhaltung der normalen erwartbaren Leistungen des Eisenbahnsystems von Planung bis Durchführung, nicht mehr genügend Fachkräfte und Spezialisten in allen Berufsgruppen zur Verfügung stehen und die Beschäftigten teilweise auf Verschleiß gefahren werden“, so der GDL-Chef.

Langfristige Bindung nur durch ­authentisches Auftreten
In Personalfragen ist also dringend Handlungsbedarf angezeigt. So sinnvoll eine Betrachtung der historischen Hintergründe ist, steht doch die Frage im Vordergrund: Wie kann die Bahnbranche den bestehenden Herausforderungen begegnen? Und wie können einzelne Unternehmen – vom internationalen Konzern bis zum regionalen Verkehrsunternehmen – gezielt Fachkräfte für ihren spezifischen Personalbedarf gewinnen? „Vor allem die mittelständischen Schienenunternehmen, die nicht so bekannt sind, tun sich im Recruiting schwer. Im IT-Bereich ist der Personalengpass genau wie in anderen Branchen am größten. Bahnunternehmen müssen deshalb im Recruiting auch innovative Wege gehen und ihre Bewerbungsprozesse überarbeiten. Mit Employer Branding und Personalmarketing können sie sich als attraktive Arbeitgeber in Szene setzen“, unterstreicht Stellenmarkt-Analyst Grenz. Zugleich warnt Gunther Wolf davor, Werbeaktionen auf den Weg zu bringen, die viel versprechen, aber nur wenig mit der Unternehmensrealität zu tun haben. Gerade die Generation Z – also potenzielle Mitarbeiter, die um die Jahrtausendwende herum und später geboren wurden – lege großen Wert auf das Ansehen ihres Arbeitgebers. „Mein Tipp: Wahre Schönheit kommt von innen. Es nützt nichts, tolle Personalmarketing-Kampagnen zu machen und sich besser darzustellen, als man ist. Das erhöht nur die Frühfluktuation. Was im Personalmarketing zählt, ist Authentizität.“ Auch für Jakob Osman, Chief Strategy Officer der Employer Branding Agentur Junges Herz, ist ein klares Unternehmensprofil eine zwingende Voraussetzung für den Erfolg einer jeden HR-Maßnahme: „Kultur schlägt Kampagne. Eine gute Arbeitgebermarke sorgt für deutlich bessere und passendere Kandidaten, als viele teure Kampagnen.“

Marketing-Mix auch im Personalgeschäft
Osman unterstreicht die Bedeutung einer authentischen Unternehmens- und Personalkultur weiter: „Die größte Herausforderung ist die Attraktivität der Arbeitgeber. Es geht um eine faire Vergütung und ebenso faire Rahmenbedingungen, das Ablegen von verstaubten Gewohnheiten und die moderne (digitale) Kommunikation mit den Kandidaten.“ Die klassische Stellenanzeige alleine reicht nicht mehr aus, um im Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter bestehen zu können: Modernes Personalmarketing basiert auf einem breiten Mix unterschiedlicher Maßnahmen, die sich sowohl des gedruckten oder online publizierten Wortes bedienen, als auch im direkten Dialog beispielsweise auf Veranstaltungen zum Tragen kommen. So sind Events und Branchentreffs inzwischen wichtige Arenen im Ringen um Talente und Fachkräfte geworden. Ein aktuelles Beispiel liefert die InnoTrans, die dem Thema Karriere eigene Ausstellungsflächen, Treffpunkte, Führungen und Bühnen widmete. Neue Formate wie etwa der Eurailpress Career Boost drehen den Spieß um: Nicht die Unternehmen präsentieren sich den Bewerbern, die Bewerber stellen sich auf der Bühne einem breiten Publikum vor und werden damit für potenzielle Arbeitgeber sichtbar. Mit 90 Sekunden Redezeit eröffnete sich den Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre Motivation, persönliche Stärken und Interessen zu schildern – und anschließend direkt in den Kontakt mit potenziellen Arbeitgebern zu treten. Dass kurze Wege zwischen Talenten und Unternehmen beste Voraussetzungen für die erfolgreiche Mitarbeitergewinnung sind, zeigte zudem der InnoTrans Campus: An einer eigens zur Jobvermittlung eingerichteten Standfläche erwarteten Jobsuchende hunderte von Stellungausschreibungen. Zudem warb eine Auswahl von Unternehmen an speziell eingerichteten Infoständen gezielt um qualifiziertes Personal.

Online und Social Media beschleunigen Recruiting-Prozesse
Da die meisten Absolventen und Fachkräfte heute online nach freien Stellen suchen, hänge der Erfolg der Mitarbeiterakquise maßgeblich von der unternehmenseigenen Karriere-Website ab, betont index-CEO Jürgen Grenz. „Optimal ist zudem ein Karriere-Blog, der in Form kurzer Videos und Texte Einblicke in die Unternehmenskultur und den Bewerbungsprozess gibt“, so Grenz. Mit Blick auf die Generation Z und passive Kandidaten, also Fachkräfte, die nicht aktiv auf Jobsuche, aber grundsätzlich offen für neue Herausforderungen sind, empfehle sich zudem Social Media Marketing. „Auf Facebook, Instagram, TikTok und Co. tummeln sich heutzutage Fachkräfte aller Altersgruppen und Erfahrungslevel. Mit sogenannten Social Ads kann man Jobinserate gezielt in der Timeline der Zielgruppe ausspielen. Die Karriere-Netzwerke Xing und LinkedIn sind auch wichtig, hier sind vor allem Fachkräfte mit akademischem Hintergrund aktiv.“ Neben der Karriere-Website erreichen Bahnunternehmen passende Kandidaten besonders gut auf branchenspezifischen Stellenbörsen wie SchienenJobs.de.
Das Medienverhalten heutiger Arbeitnehmergenerationen habe ebenso wie eine vergleichsweise hohe Stellenfluktuation für eine Beschleunigung im Personalmarketing gesorgt. „Das Recruiting ist viel schneller geworden. Nicht zwangsläufig die Bewerbungsprozesse, sondern die Entscheidungswege von Kandidaten. Heutzutage muss man Menschen schnell und nachhaltig überzeugen können, denn in der nächsten Anzeige wartet wieder ein toller Arbeitgeber“, berichtet Personalmarketing-Berater Osman. „Recruiter brauchten schon immer ein tiefes Verständnis von menschlichen Verhaltensweisen und Entscheidungswegen – ich glaube, das hat sich noch einmal verstärkt oder ist zumindest mehr in den Fokus gerückt.“

Inhouse oder mit externen Dienstleistern?
Eine erfolgreiche Personalmarketing-Strategie kann sowohl intern als auch in Zusammenarbeit mit Agenturen und externen Beratern erfolgen. Anders als die DB, die mit unterschiedlichen externen Dienstleistern zusammenarbeitet, wickelt Alstom trotz seiner Größe das komplette Recruiting und alle dazugehörigen Maßnahmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz inhouse ab. Aus Sicht von Gerda Clocheret, VP Human Resources DACH bei Alstom, sprechen zahlreiche Argumente dafür, das Recruiting und Personalmanagement mit einem internen Team durchzuführen: „Interne Stakeholder kennen das Unternehmen, sie sind mit den Produkten vertraut und verstehen die Unternehmenskultur. Was aber wohl noch wichtiger ist: Sie verstehen die Rolle und die Verantwortlichkeiten der Schlüsselpositionen, die besetzt werden müssen. Interne Stakeholder stellen nicht einfach nur ein, sie leben ihre authentischen `Verkaufsargumente´ im wahrsten Sinne des Wortes. Und sie vermitteln diese Botschaft auf Basis der Alstom AIR Werte – `agile, inclusive, responsible´. Sie sind in der Lage, künftige Alstom-Talente zu begeistern und zu binden.“ Doch nicht alle Unternehmen können im eigenen Haus auf die notwendigen Ressourcen zugreifen, um sowohl eine effektive Arbeitsmarktstrategie als auch die Maßnahmenumsetzung mit hauseigenen Mitteln zu realisieren. In solchen Fällen kann es sich als sinnvoll erweisen, auf externe Strategieberater zurückzugreifen. Zum Aufbau interner Kompetenzen spricht Recruiting-Experte Gunther Wolf eine klare Empfehlung aus: „Man kann es zu einem Bestandteil des Auftrags an einen externen Dienstleister machen, das nötige Know-how und Do-how an Mitarbeitende zu transferieren. Damit trennt man direkt die Spreu vom Weizen: Wirklich gute Unternehmensberater machen das gerne mit, aber die nicht so guten weigern sich beharrlich.“

„Es ist nicht nur das Geld entscheidend“
Authentizität und ein ebenso breites wie flexibles Maßnahmenpaket, das sich schnell an die hohe Taktung gegenwärtiger Recruiting-Anforderungen anpasst – diese zwei Faktoren sind wesentlich für ein erfolgreiches Personalmarketing. Ob die gewonnenen Fachkräfte langfristig dem Unternehmen treu bleiben, ist weitaus mehr als lediglich eine Frage des Gehalts. „Die Unternehmen müssen mehr tun. Es ist nicht nur das Geld entscheidend. Es geht auch um soziale Aspekte, das Umfeld, um Ausbildungsplatz- und um Übernahmegarantien“, unterstreicht Martin Burkert, stellvertretender Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Ähnlich lauten die Forderungen aus den Reihen der Konkurrenzgewerkschaft GDL: „Der Erfolg hängt unter anderem davon ab, wie attraktiv das Eisenbahnsystem als Arbeitgeber tatsächlich dauerhaft bleiben kann“, sagt Weselsky. „Ein weiterer Punkt sind die Möglichkeiten, die persönliche berufliche Entwicklung und Karriere sichtbar zu verbessern. Laut Weselsky komme dies einem attraktiven Versprechen für den Verbleib im Eisenbahnsystem bis zum Erreichen des Ruhestands gleich. Doch nicht nur Mitarbeiter profitieren von nachhaltigen Personalstrategien. Managementberater Wolf sieht im Personalwesen einen essenziellen Faktor für die Zukunftssicherheit von Unternehmen, auch und gerade in der Bahnbranche: „Immer mehr Unternehmen erkennen: Erfolg bei Kunden und am Absatzmarkt ist nur ein Faktor, der Wachstum ermöglicht. Die zweite notwendige Bedingung, die zu erfüllen ist, ist Erfolg bei Mitarbeitenden und potenziellen Bewerbern am Arbeitsmarkt ist. Mitarbeiterbindung, Mitarbeiterorientierung und Mitarbeiterzufriedenheit tritt gleichberechtigt neben Kundenbindung, Kundenorientierung und Kundenzufriedenheit.“ (baf)

Erfolgreich „recruiten“
Strategieberater Gunther Wolf gibt drei Ratschläge für erfolgreiches Personalmarketing:

  • „Definieren Sie eine klare Arbeitsmarktstrategie samt Ziel-Image – dann setzen Sie diese konsequent um. Im Sinne der Authentizität zuerst nach innen, dann nach außen.“
  • „Arbeiten Sie konsequent nach dem ZED-Prinzip: Gestalten Sie Personalmarketing und Recruiting zielgruppenspezifisch, emotionalisierend und differenziert.“
  • „Trauen Sie sich was, seien Sie frech! Wenn die Personalmanager Ihrer Wettbewerber auf Personalmanagertagungen kein Wort mehr mit Ihnen reden, dann haben Sie Ihren Job gut gemacht.“

 

Artikel Redaktion Eurailpress
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