Interviews

Alain Flausch

"Technologie kann nicht alles lösen"

Alain Flausch ist seit kurzem Generalsekretär des Internatio­nalen Verbandes für öffentliches Verkehrswesen (UITP). Der ehemalige Chef der Verkehrsbetriebe in Brüssel will die Attraktivität des Nahverkehrs erhöhen – mit neuen Technolo­gien und überzeugter Dienstleistungsorientierung. 

 

1. Das große Motto der UITP lautet: Den Marktanteil des Öffentlichen Verkehrs bis 2025 ver­doppeln. Was muss hierzuin Deutsch­land passieren?
Die Verdoppelung des Öffentlichen Verkehrs ist ein weltweites Ziel. Natürlich sind die Ausgangsbedingungen weltweit sehr un­terschiedlich, denn einige Märkte sind sehr gesättigt, andere haben noch ein großes Ent­wicklungspotenzial. Mit diesem Motto woll­ten wir ein Zeichen setzen, dem Sektor eine Vision geben, gerade auch in Zeiten der Fi­nanzkrise und angespannter Haushaltslagen in vielen Kommunen. Die Lage des Öffentli­chen Verkehrs, der ja auf öffentliche Gelder angewiesen ist, ist deshalb nicht einfach. Wir möchten mit diesem Motto den Sektor, der in Deutschland ja sehr regional organisiert ist, ermutigen, über die eigenen Stadtgrenzen hinaus und in die Zukunft zu schauen: Wir brauchen den öffentlichen Verkehr, wenn wir Probleme wie Luftverschmutzung und Staus in den Städten lösen wollen. Augenblicklich leben weltweit 50 % der Menschen in Städ­ten, 2025 werden es schon 65 bis 70 % sein. Ohne Öffentlichen Verkehr ersticken wir in Staus und Abgasen. Es gibt keine Alternative zum Ausbau des öffentlichen Verkehrs. 

2. Augenblicklich sind auch an­dereKonzepte in der Diskus­sion: Elektromobilität zum Beispiel.
Der Öffentliche Verkehr muss das Rückgrat sein für vielfältige Mobilitätskonzepte: Car­sharing, Rad fahren, zu Fuß gehen, das sind alles umweltschonende Fortbewegungsar­ten. Zusammen mit dem ÖPV können sie das Auto ersetzen. 

3. Viele Menschen wollen nicht auf den ÖPV umsteigen.
Man kann die Menschen nicht zwingen, den ÖPV zu nutzen. Man muss ihn attrak­tiv machen und so führen wie ein privates Unternehmen. Der öffentliche Nahverkehr muss weitgehend auf eigenen Füßen stehen können: unabhängig, konsumerorientiert, modern, attraktiv, sexy. Nur wenn der ÖPV eine reale Alternative ist zu individuellen Lö­sungen wie dem Auto, werden die Menschen umsteigen. Es gibt sehr viele Verkehrsunter­nehmen in Europa, die auf technologischer Ebene ausgezeichnet sind, die aber bei der Dienstleistungsorientierung zu wünschen übrig lassen. 

4. WenigerTechnik, mehr Per­sonal?
Ich bin nicht gegen Technologie – aber Tech­nologie kann nicht alles lösen. Die Indust­rie sollte Technologie dazu verwenden, um Kosten zu reduzieren. Die andere Aufgabe ist, Technologie so einzusetzen, dass sie den Menschen das Leben erleichtert und damit den ÖPV im Vergleich der Verkehrswege at­traktiver macht. Ich glaube immer noch, dass der ÖPV schwer zu nutzen ist. Das muss sich ändern. Wir sollten den Zögernden mit voller Überzeugung sagen können: „Wir machen es dir so einfach und komfortabel wie möglich. Bisher hatte das Auto gegenüber dem ÖPV den Vorteil, dass man sich im Auto geschützt und zu Hause fühlt – wie in einem Kokon. Neu ist, dass es jetzt über moderne Technolo­gien wie Smartphones und Tablet-Computer möglich ist, dass sich jeder Fahrgast im ÖPV seinen eigenen Kokon schafft – das sollte der ÖPV für sich nutzen. Dann kann er zusätz­lich seine eigenen Vorteile ausspielen: Denn im Gegensatz zum Auto kann man in ÖPV viel Nützliches und Angenehmes tun: lesen, schreiben, arbeiten. Das ist im Auto nicht möglich. 

5. Die EU arbeitet auf ein Sys­tem hin, bei dem es möglich sein soll, ein Ticket quer durch Europa durchzubuchen, inklusiveNahverkehr. Notfalls will man die Verkehrsunter­nehmen zwingen, ihre Daten einzu­speisen. Was halten Sie davon?
Die EU hat recht, Interoperabilität und Inter­faces zu propagieren. Es wäre aber gefährlich, sich auf eine gigantische europäische Daten­bank zu versteifen. Es gibt schon heute sehr viele Systeme und niemand möchte das Geld verlieren, das bisher in die Systeme gesteckt wurde. Das Beste wäre, dafür zu sorgen, dass die Systeme reibungslos miteinander spre­chen können, die Daten zu standardisieren, die Systeme interoperabel zu machen. Das kann zuerst auf nationaler Ebene beginnen und könnte dann nach und nach für ganz Europa aufgebaut werden. Ich verstehe die Bedenken der Unternehmen, halte es jedoch für wichtig, zwischen wettbewerbssensib­len Daten wie Kundendaten und öffentlich zugänglichen Informationen wie Fahrpläne und Tarife zu unterscheiden. Wenn wir ei­nen durchlässigen Markt wollen, müssen wir diese Informationen europaweit zugänglich machen, natürlich unter Beachtung des per­sönlichen Datenschutzes.

Artikel von Kurzinterview aus der ETR, Ausgabe 05/12
Artikel von Kurzinterview aus der ETR, Ausgabe 05/12