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Jürgen Wilder: Die Schiene - ein globaler Wachstumsmarkt

Jürgen Wilder im Gespräch; Quelle: Knorr-Bremse

Jürgen Wilder ist im Vorstand der Knorr-Bremse AG weltweit verantwortlich für Systeme für Schienenfahrzeuge. Er blickt optimistisch in die Zukunft: Selbst wenn regional Marktanteile zurückgehen, ist der Schienensektor weltweit ein Wachstumsmarkt.

Ein Blick auf 2022 - haben Sie in diesem Jahr bei den Aufträgen ein „Aufholen“ nach dem Ende der meisten Corona-Restriktionen bemerkt?

Es gab deutliche Aufholeffekte, jedoch mit lokal unterschiedlichen Entwicklungen. Als Systemlieferant korreliert unser Auftragseingang mit den Auftragseingängen bei den Fahrzeugherstellern - mit einem zeitlichen Abstand von teilweise mehr als 9 Monaten. Die Umsatzentwicklung ist projektbedingt zeitlich nachgelagert, was auch an den Störungen der Lieferketten lag. So hatten weltweit einige Hersteller Schwierigkeiten, ihre Fahrzeuge auszuliefern, also ihren Umsatz aus den Werkshallen hinaus zu bekommen. Entsprechend gab es Verzögerungen. 2022 war ein weiteres sehr herausforderndes Jahr. Perspektivisch stehen die Zeichen dennoch auf Wachstum, da der Trend zur nachhaltigen Mobilität ungebrochen ist.

Zwei wichtige Märkte für Knorr-Bremse sind Russland und China. Wie sieht es hier aus?

China war 2022 über weite Strecken sehr durch Corona-bedingte Lockdowns geprägt - dies hat sich sowohl auf das Service als auch auf das Neu-Geschäft ausgewirkt. Unmittelbar nach Beginn der Auseinandersetzungen in der Ukraine haben wir konsequent die EU-Sanktionen gegen Russland umgesetzt. Auch tätigen wir dort kein Neu-Geschäft mehr.

Inwiefern schlägt sich das auch in der Gewinnquote nieder?

Das Russlandgeschäft war sehr margenträchtig. Auch in China haben wir ein profitables Geschäft. Hier gehen sowohl der Markt und wegen der Autonomous Policy auch unsere Marktanteile zurück. Diese beiden Effekte können wir nicht so einfach ausgleichen. Aber wir arbeiten an Maßnahmen, um diese Entwicklungen wenigstens abzumildern.

Was genau hat sich in China in jüngster Zeit geändert?

Dass vor Ort produziert werden muss, war schon länger eine Auflage für Unternehmen. Ab Mitte der 2010er-Jahre ist unser Geschäft in China stark gewachsen. Hintergrund hierfür war, dass zu Anfang des Jahrzehntes nach einem Unfall im Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV) China den weiteren Ausbau des HGV erst einmal stoppte, um die Ursachen zu klären. Dies führte zu einem riesigen Nachholbedarf ab 2014 / 2015, von dem auch unsere Rail-Division profitierte. Dann entschied die chinesische Regierung, eigene Technik für den Hochgeschwindigkeitsverkehr zu entwickeln, bei Fahrzeugen und Komponenten. Das führte dazu, dass schon 2017 / 2018 unser Geschäft im HGV zurückging. In unseren Umsatzzahlen mit China machte sich das aber noch nicht sofort bemerkbar, weil zeitgleich der Markt bei Metro-Fahrzeugen und der Nachmarkt wuchsen. Das Wachstum im Metro-Segment flacht jedoch ab, weil die Investitionen der chinesischen Regierung zurückgingen und eigene chinesische Plattformen entwickelt wurden. Der Ersatz von westlicher Technik durch chinesische Technik erfolgt hier jedoch langsamer, weil das Metro-Geschäft lokal entschieden wird, während die Entscheidungen im Hochgeschwindigkeitsverkehr zentral und damit schneller erfolgen. Hinzu kommt, dass die chinesische Regierung sparen muss, also die Märkte insgesamt eher schrumpfen. Heute ist der Service-Umsatz am stärksten, denn wir haben rund 21.000 Fahrzeuge mit unseren Systemen in China. Dieser Markt ist unser stärkstes Standbein, von dem wir deutlich und nachhaltig profitieren werden.

Was ist aus Ihrer Sicht ein Wachstumsmarkt der Zukunft - Indien? Die USA?

Wir sehen viel Potenzial in Indien, nicht nur für Bremssysteme, sondern auch für hochwertigere Tür- oder auch Sanitärsysteme für Züge. Auch der afrikanische Markt hat großes Wachstumspotenzial, wenn auch von einem weit niedrigeren Niveau ausgehend als in Indien. In Nordamerika glauben wir, dass der Frachtmarkt und auch der Transitmarkt stark wachsen werden - wir sind dort gut positioniert. In den nächsten Jahren erwarten wir aber, dass Europa unser größter Wachstumstreiber sein wird, nicht zuletzt durch die Erweiterung unseres Portfolios und den Einstieg in das Kupplungssegment, sondern weil hier der politische Wille zur CO2-Reduktion im Transport am größten ist. Die Digitale Automatische Kupplung (DAK) ist extrem wichtig für die Zukunft. Ich bin sehr optimistisch, dass Knorr-Bremse weiter wachsen wird, mit neuen Märkten, denn der Schienensektor ist global ein Wachstumsmarkt.

Die DAK-Testungen im Feld werden augenblicklich nicht mit der Knorr-Bremse Kupplung durchgeführt. Ist eine Integration Ihrer Kupplung in die Tests für die Zukunft vorgesehen? Und haben Sie Lösungen für die Probleme, die bei den Tests auftraten, also der Einsatz im Ablaufberg oder das noch nicht zuverlässige automatische Entkuppeln?

Wir haben im vergangenen Jahr Prototypen vorgelegt und führen seitdem umfassende eigene Tests durch. Diese sind sowohl beim elektronischen als auch beim mechanischen und pneumatischen Teil gut verlaufen. Die Zertifizierung, die für die nächsten Testphasen nötig ist, haben wir erhalten. Zudem steht die Knorr-Bremse Kupplung kurz davor, Teil des Europe’s Rail Testzugprojekts in Schweden zu sein. Wir waren bei der DAK nicht von Anfang an dabei, weil Knorr-Bremse zu diesem Zeitpunkt keine Kupplung im Portfolio hatte, doch wir haben schnell nachgezogen und ich bin überzeugt, dass wir bei der DAK ganz vorne mitspielen werden. Bei einem Produkt mit so hoher Standardisierung wie bei der DAK kann man als Unternehmen auch als Follower agieren und später führend sein.

Welchen Marktanteil erhoffen Sie sich bei der DAK?

Wir streben einen Marktanteil von mindestens einem Drittel an. Ich sehe keinen Grund, warum wir das nicht schaffen sollten. Bei der DAK braucht man einen langen Atem - den haben wir.

Wie sieht es bei den Fahrerassistenzsystemen aus - diese sollen ja dazu beitragen, den Energieverbrauch zu senken. Ist hier aufgrund des starken Ansteigens der Energiepreise die Nachfrage gestiegen?

Wir bieten die Fahrerassistenzsysteme für den Güterverkehr in Europa, in den USA und in Australien an. Dabei haben wir innovative Geschäftsmodelle entwickelt, indem wir sowohl die Fahrerassistenz in Form von intelligenten Empfehlungen als auch die Messung des Erfolges – der Energieersparnis – anbieten und im Gegenzug an der Verringerung der Betriebskosten beteiligt werden. Diese sogenannten Performance Contracting Modelle setzen wir insbesondere im deutschsprachigen Raum ein und rollen sie derzeit in weiteren Regionen aus, etwa in Amerika.

Knorr-Bremse hat gegen Ende 2022 eine enge Zusammenarbeit mit Thales bei der Digitalisierung angekündigt. Worum geht es genau bei der Kooperation?

Beim zukünftigen automatisierten Fahren geht es immer um das komplexe Zusammenspiel der Technik, also beispielsweise zwischen der Leit- und Sicherungstechnik, dem Antrieb und anderen Systemen im Zug. Viele der Subsysteme in den Zügen stammen von Knorr-Bremse. Deshalb haben wir uns entschlossen, mit Thales zusammen zu arbeiten, um das automatisierte Fahren mit voranzutreiben. Ein konkretes Projekt für eine wichtige Güterstrecke in Europa läuft derzeit bereits an.

Thales ist ein großes etabliertes Unternehmen. Knorr-Bremse arbeitet auch viel mit Start-ups zusammen. Beispielsweise hat sich Ihr Unternehmen bei dem israelischen Startup Rail Vision beteiligt und auch beim Sensoranbieter Nexxiot. Was ist wichtig für eine Zusammenarbeit zwischen Start-up und Großkonzern?

Bei Nexxiot halten wir eine strategische Minderheitsbeteiligung und haben darüber hinaus einen Kooperationsvertrag geschlossen. Gemeinsam entwickeln wir eine Infrastruktur, mit der wir unsere Zugsubsysteme „smart“ machen können. Mit Sensorboxen ausgerüstet können sie im Betrieb Daten sammeln, auf deren Basis etwa vorausschauende Wartung ermöglicht wird. Services also, die die Verfügbarkeit von Zügen erheblich steigern können. Wir wollen das Beste aus zwei Welten: die Schnelligkeit eines Start-ups in der Entwicklung und die Erfahrung eines Technologie-Großkonzerns. Wir sind überzeugt, dass wir so die typische Start-up Geschwindigkeit nutzen können, um unsere eigenen Entwicklungen schneller voranzutreiben und viel Zeit zu sparen auf unserem Weg in die Digitalisierung.

Wie viel schneller sind Sie in der Entwicklung durch die Zusammenarbeit mit Start-ups?

Wenn wir beim Beispiel Datensammelboxen und Nexxiot bleiben, gehen wir davon aus, dass wir durch diese Beteiligung und besonders die Kooperation unsere Ziele zwei Jahre früher erreichen.

Bei Rail Vision, dem israelischen Start-up zur Hinderniserkennung mit Kameras und Sensoren, sind Sie schon länger dabei. Wie hat sich das entwickelt?

Rail Vision ist eine Beteiligung, die durchaus auch unter dem Aspekt Venture Capital erfolgte, also die Investition in ein Start-up mit einer sehr vielversprechenden Technologie. Sowohl die Sensorik für die Objekterkennung als auch die Künstliche Intelligenz zur Auswertung der Daten, die zusammen eine Hinderniserkennung bis zu 2 km Entfernung ermöglichen, sind für uns interessante Technologien, besonders im Zusammenhang mit dem zukünftig automatisierten Fahren. Rail Vision konnte vielversprechende Testergebnisse erzielen, hat jetzt den ersten kommerziellen Auftrag bekommen und ist in den Markt eingetreten. Wir treiben die Partnerschaft weiter voran, halten unsere Beteiligung und unterstützen Rail Vision vertrieblich, denn wir haben den Zugang zu den Kunden.

2022 haben Sie sich weiterhin auf das Konzept der Reproducible Braking Distance (RBD) konzentriert. Diese ermöglicht kürzere Bremswege, wodurch der Abstand zwischen Zügen verkürzt und letztendlich die Kapazität im Netz erhöht werden kann. Wie weit sind Sie hier gekommen?

Simulationen in Zusammenarbeit mit der S-Bahn Hamburg haben gezeigt, dass wir mit der RBD-Bremssystemarchitektur konkrete Ergebnisse für einen verbesserten Traffic Flow erzielen können. So könnte RBD die Zahl der täglich fahrenden Züge in einem Netz, sei es Vollbahn oder S-Bahn, um bis zu 10 % erhöhen. Im Zusammenspiel mit ETCS und Technik für den automatisierten Zugbetrieb könnten Kapazitätserhöhungen um bis zu 40 % möglich sein. Zugleich hilft es, die Pünktlichkeit zu erhöhen, einen stabileren Betrieb abzusichern und Verspätungen einfacher aufzuholen. Die Marktreife von RBD streben wir 2024 an. Ich bin sehr optimistisch, dass dieses System mehr und mehr, zumindest auf bestimmten Strecken, selbstverständlich werden wird.

Müssten die Fahrzeughersteller RBD integrieren oder die Infrastrukturbetreiber?

RBD müsste zunächst einmal im Fahrzeug integriert werden. Wenn dann durch die Installation von RBD die Bremswege stabilisiert sind, kann der Betreiber hierüber die Dichte der Züge im Netz erhöhen, vor allem auf Strecken mit ETCS. Dort müssen dann auch einige Parameter der Infrastruktur angepasst werden.

Hintergrund meiner Frage war, wer letztendlich die Entscheidung fällt.

Die Entscheidung kann von einem oder mehreren Beteiligten gefällt werden. So kann sich beispielsweise ein Betreiber eines S-Bahn-Netzes für die Ausrüstung von Zügen mit RBD-Technologie entscheiden, wenn sein Netz in sich geschlossen ist. Ebenso kann ein Betreiber in die Abstimmung mit dem Infrastrukturbetreiber gehen, um durch Anpassungen an der Infrastruktur weitere Potenziale für die Fahrplanstabilität zu heben. RBD kann in Neufahrzeugen gleich installiert oder für ältere Fahrzeuge nachgerüstet werden.

Knorr-Bremse hat den Rail Data Space vorgeschlagen. Wie weit sind Sie hier?

Anfang Dezember 2022 haben wir uns vertraglich verpflichtet, dass wir im Rahmen von Europe´s Rail das Projekt eines europaweiten Daten-Hubs mit klaren Nutzungsregeln für acht Jahre leiten werden. In der Vergangenheit war die Angst in Bezug auf Datenaustausch immer groß: Jeder hat einen engen, undurchlässigen Zaun um seine Daten gebaut. Doch Mehrwert aus Daten kann man nur generieren, wenn man diese Zäune durchlässiger macht und die Daten miteinander verbindet. Es ist ein kollektiver Prozess, bei dem alle immer prüfen müssen, wer tatsächlich Mehrwert liefert, und sich darauf einigen müssen, wie Benefit Sharing gestaltet wird. Daten und Datenaustausch spielen im Rail-Bereich besonders im Zusammenhang mit vorausschauender Wartung und Instandhaltung eine Rolle. Bei Predictive Maintenance werden die festen Wartungsintervalle durch zustandsbasierte Strategien abgelöst. Knorr-Bremse engagiert sich stärker bei der Wartung und Instandhaltung - Ende 2022 wurde beispielsweise der Werkstattbereich der Dänischen Staatsbahn (DSB) gekauft. Wir haben in den After-Sales-Bereich investiert und werden dies auch in Zukunft tun. Wir wollen subsystemspezifisch und regional Werkstatt-Logistik aus- und aufbauen, um umfassende und innovative Services anzubieten.

Knorr-Bremse wird also jetzt in verschiedenen Ländern in Europa weitere Werkstätten aufkaufen?

Grundsätzlich will ich das nicht ausschließen. Wir prüfen jedoch immer sehr genau, was wie passt. Für Bremsen haben wir ein sehr breites Netz an Standorten weltweit - dies wollen wir auch für viele weitere Subsysteme ausbauen. Wobei wir in den Werkstätten der DSB nicht nur unsere Subsysteme warten und instand halten, sondern umfangreiche Dienstleistungen bereitstellen.

Eine private Frage: Wenn Sie auf die Corona-Zeit zurückblicken, sehen Sie bleibende Veränderungen für sich?

Als Mensch bin ich Optimist und offen für Neues, was auch Corona nicht erschüttert hat. Dennoch glaube ich, dass die Entwicklungen in den letzten beiden Jahren, also vor allem Corona und der Krieg in der Ukraine, dazu geführt haben, dass eine gewisse Dauerkrise das „New Normal“ sein wird. Als Unternehmen diskutieren wir das intensiv und stellen uns darauf ein.


Das Interview aus Eisenbahntechnische Rundschau 3/2023 führte Dagmar Rees.

Artikel Redaktion Eurailpress
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