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Monika Heiming: Wir brauchen eine europäische Vision

Infrastruktur erfordert langfristiges Denken. Deshalb muss sich Europa heute darauf verständigen, welches Eisenbahnnetz es morgen haben will, ist Monika Heiming überzeugt; Quelle: M. Heiming/Infrabel

Monika Heiming, Geschäftsführerin des Verbandes Europäischer Eisenbahninfrastrukturmanager EIM, zur Zukunft der Infrastruktur.

Der Ruf nach schnellerem Netzausbau in der EU wird immer lauter. Gibt es genug politische Unterstützung, damit die Ziele auch erreicht werden können?

Politische Unterstützung ist da, doch eine angemessene finanzielle Unterstützung wäre auch super. Die in der Connecting Europe Facility (CEF) bereitgestellten Mittel sind gegenüber der Vorperiode nicht erhöht worden. Wenn man schnell mehr Kapazität will, muss man aber mehr investieren. Daran hakt es allerdings überall in Europa. Infrastrukturprojekte haben wegen der umfassenden Planungs- und Genehmigungsverfahren aber einen Vorlauf von mindestens 5 bis 10 Jahren. Daher ist Infrastrukturausbau kein sogenannter „Quick Fix“. Er muss zügig erfolgen, wenn man in einer Dekade oder mehr Ergebnisse sehen möchte.

In Deutschland wurden beispielsweise im Masterplan Schienengüterverkehr eine Vielzahl kleiner Maßnahmen festgehalten – ein Überholgleis hier, eine Weiche dort, die die Kapazität durchaus steigern.

Sicher gibt es immer Einzelmaßnahmen, die Engpässe beheben können. Doch Eisenbahninfrastruktur ist ein Netz, das ganzheitlich entwickelt werden muss. Eine Einzelmaßnahme macht daher noch lange kein leistungsfähiges Netz, auch wenn viele Maßnahmen sicherlich einen lokalen Mehrwert bringen. Für ein europäisches Schienennetz braucht es daher alle Mitgliedstaaten mit einer einheitlichen europäischen Vision. Dabei geht es nicht nur um den harmonisierten Ausbau oder vereinzelte Hochleistungs-Rennstrecken, sondern um ein europäisches leistungsfähiges, einheitliches Schienennetz für alle. Dieser „Very Big Fix“ ist eine große Herausforderung.

Angesichts des Green Deal der EU müsste die Schieneninfrastruktur jetzt doch sehr gute Karten haben.

In der politischen Debatte darum, was „grün“ ist, hat die Schiene natürlich einen großen Vorteil. Allerdings verliert dieser Vorteil in einer zunehmend dekarbonisierten Wirtschaft an Zugkraft. Alternative Antriebstechnologien wie Batterien und Wasserstoff im Luft- und Straßenverkehr werden weltweit erheblich gefördert. Der augenblickliche Wettbewerbsvorteil der Bahnen verschwindet mit zunehmender Reduzierung des CO2-Ausstoßes anderer Verkehrsträger. Hinzu kommt, dass die jetzt diskutierten Grundsätze der „Green Taxonomy“ auch bedeuten können, dass in Zukunft einige Verkehre auf der Schiene nicht per se grün sind, wenn es beispielsweise um die Beförderung fossiler Brennstoffe geht.

Was müsste die Schiene tun, um sich langfristig wettbewerbsfähig zu positionieren?

Die Schiene muss eindeutig europäischer werden. Dem durchgehenden Zugverkehr sind in Europa hier und da noch gewisse Grenzen gesetzt. Diese haben ihren Ursprung entweder in technischen oder betrieblichen Regeln. Die Infrastrukturbetreiber der EIM arbeiten auf EU-Ebene intensiv an europäischen Lösungen, vor allem mit der europäischen Eisenbahnagentur ERA. Laut einer EU-Studie hat die Schiene im grenzüberschreitenden Verkehr noch großes Wachstumspotential. 2018 lag der Marktanteil im Personenverkehr bei lediglich 7 % und im Güterverkehr bei 52 %.

Es gibt das Ziel des Einheitlichen Europäischen Eisenbahnraumes? Ist das nicht eine Vision für die Schiene?

Dieses Ziel setzt den Schwerpunkt auf die Harmonisierung. Es lässt jedoch gesellschaftliche Grundfragen off en, nämlich: Welches Schienennetz wollen wir als EU? In einigen Ländern liegt der Fokus eher auf der Hochgeschwindigkeit, in anderen eher auf dem konventionellen Verkehr. Doch ein einheitlicher europäischer Eisenbahnraum braucht eine gemeinsame Vision, und zwar für alle Verkehrsarten und auch wie diese ineinandergreifen sollen. Die Infrastruktur ist dabei ein strategischer Akteur, der die politischen Vorgaben mit den ihm zugeteilten Mitteln um- und einsetzt. In diesem Sinne ist das „Europäische Jahr der Schiene“ eine hervorragende Gelegenheit, sich der Bedeutung, aber auch der Zukunftsfähigkeit und der notwendigen Weiterentwicklung der Schiene bewusst zu werden. Der sogenannte „Green Deal“ der EU kann der Schiene einen enormen Antrieb verleihen. Stichwort ist hier beispielsweise die Digitalisierung, die ja eine der Säulen des Green Deal ausmacht.

Welche Rolle spielt denn die Digitalisierung?

Die Digitalisierung ist für die Schiene essentieller und strategischer Hebel. Intelligente Technologien können die Kapazität im Netz erhöhen, z. B. durch ERTMS/ETCS Level 3. Damit kann man, unter Einbeziehung der Verkehrsknoten, wie Bahnhöfe und Terminals, bis zu 30 % mehr Kapazität generieren. Im Schienengüterverkehr wird außerdem gerade die Digitale Automatische Kupplung (DAK) erprobt. Damit lassen sich weitere Kapazitäten generieren, ohne dass hierzu neue Gleise verlegt werden müssten. Es gibt noch zahlreiche weitere Potenziale, wie die konsequente Digitalisierung der Schienenparameter, der Fahrplanprozesse und der Trassenvergabe, oder aber beim Asset Management. Wichtig ist, dass die Digitalisierung keine neuen technischen Hürden schafft, sondern interoperabel ist. Damit wäre die Schiene dann nicht nur grün, sondern auch wettbewerbsfähiger. Dieser Aspekt ist angesichts zunehmender Kapazitätsengpässe bei allen Verkehrsarten von enormem Vorteil.

Teil der Mobilitätsstrategie ist Resilienz. Was umfasst dies?

Resilienz ist nicht nur Teil der Mobilitätsstrategie, sondern ein alle Sektoren umfassendes Programm. Im Verständnis der EUKommission geht es dabei nicht nur um Klima-Resilienz, also die Fähigkeit, Klimaänderungen und -ereignisse wie Sturm, Überschwemmung, Hitze- und Kältewellen zu überstehen, sondern auch um finanzielle und geopolitische Resilienz. Für Infrastrukturbetreiber sind all diese Aspekte ein großes Thema. Die Mitglieder in der EIM tauschen sich regelmäßig hierzu aus, schon aufgrund der damit verbundenen Anforderungen und Investitionen. Die Thematik wird in Zukunft an strategischer Bedeutung gewinnen, nicht nur aufgrund des Klimawandels oder der Cybersecurity.

Im CEF gibt es nicht mehr Mittel, sagten Sie. Wo finden sich die Gelder, die diese finanziellen Anreize geben?

Der Anreiz bei CEF liegt vor allem beim grenzüberschreitenden Verkehr. CEF wird allerdings nicht ausreichen, um den gewünschten Ausbau des TEN-T Netzes und die damit verbundenen Investitionen in ERTMS bis 2030 auf dem Kernnetz zu finanzieren. Die Kommission diskutiert intern auch, den Ausbau des gesamten TEN-T Netzes von 2050 auf 2040 vorzuverlegen. Damit müsste das aktuelle CEF Budget neu aufgestellt werden. Die EIM plädiert daher für einen speziellen EU-Infrastrukturfonds mit einer höheren EU-Kofinanzierungsquote, um mehr Investitionsanreize zu schaffen.

Die EU-Kommission überarbeitet ihre Vorgaben bezüglich TEN-T und Güterverkehrskorridoren. Welche Änderungen würden Sie sich aus Sicht der Infrastrukturbetreiber wünschen?

Wichtig sind eine klare und einheitliche Finanzierung und die gemeinsame europäische Vision. Damit einher geht auch eine klare Strategie bezüglich der Einführung von 5G entlang des Schienennetzes. Wir sind ein sehr datenintensiver Sektor, besonders wenn es um die Automatisierung geht, wie beispielsweise Automated Train Operation (ATO) und ETCS Level 3 mit Cloud-basierter Leit- und Sicherungstechnik. Wichtig sind auch eine gute Koordination zwischen TEN-T und Güterverkehrskorridoren sowie die Einführung der europaweiten Hochgeschwindigkeitskorridore für den Personenverkehr. Und nicht zuletzt brauchen wir eine gut aufgestellte Europäische Eisenbahnagentur (ERA) und eine zügige Innovation durch die gemeinsame Forschungsinitiative „Europe’s Rail“ unter Horizon Europe.

Die EU betont in ihrer Strategie für den Verkehr die Wichtigkeit von Multimodalität. Was bedeutet dies für die Eisenbahninfrastruktur?

Damit die gewünschte Verkehrsverlagerung gelingt, müssen die verschiedenen Verkehrsträger untereinander vernetzt werden. Die Hälfte der Mitglieder von EIM ist bereits multimodal. In Zukunft gilt es, angesichts der zunehmenden Automatisierung im Straßen- und Schienenverkehr auch die entsprechenden verkehrsartenübergreifenden Systeme bei der Kommunikation zu entwickeln. Die Frage der Sicherheit ist dabei ein großes Thema. Darüber hinaus sind Plattformanwendungen, wie „Mobility-as-a-Service“, ein wichtiger Akteur bei der zunehmenden Verlagerung zwischen den Verkehrsarten. Ein stärkerer intermodaler Datenaustausch ist dabei ein langjähriges politisches Ziel der EU. Bei der EIM werden wir diesen Trend aufgreifen.

Die EU will in den kommenden Jahren ein EU-weit koordiniertes Kapazitätsmanagement erreichen. Technisch ist dies durch ERTMS möglich. Zentrales Kapazitätsmanagement bedeutet jedoch auch, dass die nationalen Eisenbahninfrastrukturunternehmen einen Teil ihrer Aufgaben abgeben müssen. Wie ist hier Ihre Haltung?

Die nationalen Eisenbahninfrastrukturunternehmen haben heute zwei wesentliche Aufgaben: Die Erhaltung und den Ausbau des Schienennetzes und die Vermarktung der Trassen. Eine effiziente Bewirtschaftung des Netzes erfordert einen gesamtheitlichen Ansatz, nicht nur von Teilbereichen. Eine Trennung von nationalem und internationalem Trassenmanagement bringt daher wenig, da man hierdurch ein neues Schnittstellenmanagement bräuchte, was wiederum neue Ressourcen erforderlich machen würde. Sinnvoller wäre es, durch die Digitalisierung ein einheitlicheres Trassenvergabeprocedere für alle zu schaffen.

Übrigens gibt es heute schon grenzüberschreitende Kooperationen. Auf EU-Ebene befasst sich außerdem die Plattform für Eisenbahninfrastrukturbetreiber „Prime“ politisch mit dem Thema. Welche Art der gemeinsamen Kapazitätsbewirtschaftung könnten Sie sich vorstellen?

Eine bessere Harmonisierung der nationalen Trassensysteme durch die Digitalisierung würde schon viel bringen. Die EU diskutiert aber auch andere Modelle, wie beispielsweise ein „Eurocontrol für die Schiene“. Dieses sieht eine übergeordnete Instanz, bestehend aus allen Infrastrukturbetreibern, vor, die grenzüberschreitende Trassen vergeben soll. Ein anderer Ansatz könnte auch darin bestehen, zuerst einen internationalen Fahrplan in Abstimmung mit anderen Infrastrukturbetreibern und Eisenbahnverkehrsunternehmen zu erstellen und dann die nationalen Fahrpläne daran anzupassen. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, wie der Markt sich für grenzüberschreitenden Verkehr, insbesondere im Personenbereich, entwickelt. Die EU-Plattform der Mitgliedstaaten für die Einführung eines europäischen Personenverkehrsnetzes wird uns hier wichtige Impulse geben. Egal wo hier die Reise hingeht, die Digitalisierung quasi aller Prozesse im Schienenverkehr ist in jeder Hinsicht notwendig. Damit lässt sich die Schiene als gleichwertiger Leistungsträger im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern etablieren und an den zukünftigen Bedarf ausrichten. Damit wären dann auch zusätzliche paneuropäische Governance-Strukturen hinfällig.

Eisenbahninfrastruktur bedeutet langfristige Planung – gleichzeitig verändert sich unsere Gesellschaft immer schneller. Wenn Sie Eisenbahninfrastruktur am Bedarf ausrichten wollen – wie ermitteln Sie den Bedarf der Zukunft?

Wir beobachten Trends und Märkte sehr genau und stehen im engen Austausch mit den Kunden, um Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Der Markt tendiert klar zu immer kürzeren Lieferzeiten, leichteren Gütern, aber auch einer stärkeren Vernetzung mit anderen Verkehrsarten. Auf EU-Ebene wird inzwischen auch Hochgeschwindigkeits-Güterverkehr auf der Schiene diskutiert. Hierbei stellen wir uns die Fragen: Wie zeitnah werden dann die Trassen bestellt? Was müssen wir als Infrastrukturbetreiber leisten, um diese Verkehre auf der Schiene zu ermöglichen? Oder wie wird sich der Markt für Nachtzüge entwickeln? Infrastrukturbetreiber erstellen viele Bedarfsanalysen, schon aufgrund der erforderlichen langfristigen Investitionen.

Frankreich hat vor kurzem die Nutzung von Flugzeugen für kurze Reisestrecken verboten, Österreich will Abfalltransporte auf der Straße über längere Strecken verbieten. Ist eine solche Regulierung auch auf EU-Ebene zu erwarten?

Die EU-Verkehrskommissarin Adina Valean hat sich gegen solche Verbote ausgesprochen. Stattdessen setzt sie auf Anreize, wie beispielsweise im Rahmen des EU-Programms zur Wiederbelebung der Wirtschaft nach Covid-19, bei dem sie den Mitgliedstaaten explizit Investitionen in die Schiene und die Digitalisierung empfohlen hatte. Im Rahmen des EU-Green Deal wird die EUKommission allerdings versuchen, zumindest eine Mindestbesteuerung von Kerosin im Flugverkehr einzuführen, wenn auch über einen Zeitraum von 10 Jahren. Gleichzeitig will sie den Mitgliedstaaten die Option geben, erneuerbare Energien im Schienenverkehr von der Steuer zu befreien oder zumindest steuerlich zu begünstigen. Das wäre ein willkommener Schritt in die richtige Richtung.

Eine Entscheidung der Vergangenheit, die weit in die Zukunft reicht, ist die Einführung von ETCS. Zumindest in Deutschland wird für die beiden kommenden Jahrzehnte nur von ETCS Level 2 gesprochen. Könnte man nicht schneller zum Level 3 übergehen, besonders wenn dann die Digitale Automatische Kupplung (DAK) vollständig eingeführt ist?

Auf EU-Ebene wird auch schon in Richtung Level 3 gedacht. Bei dem weiteren ETCS-Rollout und der Vorbereitung von Level 3 ist für Eisenbahninfrastrukturbetreiber sehr wichtig, dass die ETCS-Versionen der einzelnen Hersteller untereinander kompatibel sind. Level 3 muss ohnehin rückwärtskompatibel sein, so dass wir jetzt Level 2 vorantreiben können und dann auf Level 3 updaten, wenn die Technik reif ist. Aus Sicht der Eisenbahninfrastrukturbetreiber wäre es außerdem wünschenswert, dass die Fahrzeuge schnell mit ETCS ausgestattet werden, denn nur dann können wir auf die neue Technologie umrüsten. Hierbei ist wichtig zu erwähnen, dass erst mit einer ausgerollten DAK ein flächendeckendes ETCS L3 möglich ist.

Was hat das Europäische Jahr der Eisenbahn für die Infrastrukturbetreiber bisher gebracht?

Wir wünschen uns ein Jahrzehnt der Eisenbahn, denn in der Welt der Infrastruktur ist ein Jahr nur ein Wimpernschlag. Sehr positiv ist aus meiner Sicht, dass in diesem Jahr die Mitgliedsländer untereinander und auch mit den Sektorvertretern intensive Dialoge geführt haben, wie man die Schiene für die Zukunft fit macht, beispielsweise über die Einrichtung eines europäischen Schienenpersonennetzes. Eine erste Stellungnahme wurde im Juni 2021 vom Ministerrat verabschiedet Weitere Gespräche und Stellungnahmen sollen bis 2022 folgen.

Was hat sich für Sie persönlich durch die Corona-Pandemie geändert?

Gar nichts. Ich gehe morgens sehr früh zu Fuß 30 Minuten ins Büro und am späten Abend genauso zurück. Ich kann die Corona-Situation nicht ändern, aber ich kann entscheiden, wie ich damit umgehe. Meine Mitarbeiter haben dies ebenso gehalten und wir sind als Team trotz oder gerade wegen Corona noch mehr zusammengewachsen. Geholfen hat mir persönlich auch das Gespräch mit meinem 93-jährigen Vater, der den zweiten Weltkrieg er- und überlebt hat. Uns ist oftmals nicht bewusst, welches Geschenk es ist, in einem vereinten und friedlichen Europa zu leben. Ein solches Europa wäre natürlich noch besser mit sehr viel Eisenbahninfrastruktur.

Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 7-8/2021 führte Dagmar Rees.

Artikel Redaktion Eurailpress
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