Bahn Manager

Reaktivierung von Bahnstrecken: essenziell für die Verkehrswende

Unter Deutschlands Parteien ist es weitgehend Konsens: Die Verdoppelung der Fahrgastzahlen im Zugverkehr und die Steigerung des Schienengüterverkehrs auf 25 % des gesamten Transportaufkommens sind essenziell für die Erreichung der Klimaschutzziele. Dazu bedarf es der Ertüchtigung bestehender und des Baus neuer Bahnstrecken. Doch einen wesentlichen Beitrag zur klimaschonenden Verkehrswende kann auch die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken leisten.

Dieser Artikel enstammt der bahn manager-Ausgabe 02/2023.

Von Hermann Schmidtendorf

Am 17. November 2022 kam es in Leifede an der Hauptstrecke Berlin – Hannover zu einem Zugunglück. Stundenlang war die Bahnstrecke gesperrt, Umleitungsmöglichkeiten: Fehlanzeige. „Resilienz ist heute der Begriff der Stunde“, betont deshalb gegenüber dem bahn manager der Vizepräsident des Verbands Deutscher Eisenbahn-Ingenieure (VDEI) Dr. Jürgen Murach. „Wir brauchen eigentlich für jede Hauptverkehrsstrecke auch eine Ersatzstrecke, wenn es zu Störungen kommt.“ Im Fall Leifede sei der Mangel wieder einmal offenbar geworden.
Eigentlich gäbe es eine Reihe früherer Hauptstrecken im ehemaligen Bereich zwischen der DDR und der Bundesrepublik, die sich für Umleitungen eignen könnten, so Murach: „Zum Beispiel von Magdeburg und Halle über Goslar nach Hannover, die Streckenabschnitte sind gut trassiert, die Strecken haben gute Kurvenradien, aber da gibt es sehr viel zu tun. Oder die Amerika-Linie von Uelzen nach Bremen ist ja auch ein gutes Beispiel, wo man noch in den 1970er Jahren das zweite Gleis zurückgebaut hat, weil man dachte, die Wiedervereinigung kommt ja nicht.“
Doch die Wiedervereinigung kam, der Bahnverkehr hat unter Klimagesichtspunkten eine zentrale Bedeutung bekommen. Jetzt hätten die stillgelegten oder degradierten Strecken wieder eine Aufgabe. Sollen Strecken auch als Ausweichstrecken für den Güter- und Personenfernverkehr dienen, müssten sie nicht nur ertüchtigt, sondern auch elektrifiziert werden. Das träfe etwa für die Regionalbahnstrecke RB 36 Königs Wusterhausen – Frankfurt/Oder zu. Über diese Strecke könnten im April 2023 solche Züge von Berlin umgeleitet werden, während die direkte Strecke Berlin – Frankfurt/Oder wegen Bauarbeiten gesperrt ist. Das wären nur 15 km Umweg gegenüber dem direkten Weg. Doch ab Königs Wusterhausen hat die Strecke keinen Bahnstrom, also fällt diese zeitsparende Umwegvariante für einen Notfall aus. 

277 Bahnstrecken mit 4573 km Länge reaktivieren
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und die gemeinnützige Allianz pro Schiene (ApS) beschäftigen sich seit Jahren mit der Frage, wie das Bahnnetz in Deutschland in der Fläche schnell und vergleichsweise kostengünstig verbessert werden kann. In einer nunmehr schon in dritter Auflage erschienenen Broschüre schlagen sie die Reaktivierung von 277 Strecken mit 4573 km Länge vor. Davon solle etwa die Hälfte auch mit Oberleitung elektrifiziert werden, um neben der Funktion für die Region auch überregionale Aufgaben erfüllen zu können. Weitere 1785 km sollten einen elektrischen Betrieb mit Akkuhybridtriebwagen erhalten, welche den Strom wahlweise aus Batterie oder Oberleitung beziehen können. Für die restlichen 601 km käme die Brennstoffzellentechnik in Betracht.
In der VDV-Broschüre werden zugleich 332 Städte und Gemeinden gelistet, die durch die vorgeschlagenen Reaktivierungen wieder Anschluss an das Bahnnetz erhalten könnten. Insgesamt 3,4 Mio. Einwohner sind davon betroffen. In Deutschland sind über 900 Orte als Mittelzentren eingestuft, d. h., sie haben im Durchschnitt um die 20 000 Einwohner. Verblüffend: 122 dieser Städte mit fast 1,8 Mio. Einwohnern sind überhaupt nicht an das im Personenverkehr betriebene Bahnnetz angeschlossen, haben also weder Zugang zur Eisenbahn noch zu einer U-Bahn, einer Stadtbahn oder Straßenbahn. Doch 119 dieser Orte wurden früher einmal im Eisenbahnpersonenverkehr bedient, 44 von ihnen haben sogar heute noch einen Eisenbahnanschluss, der wieder in Betrieb genommen werden könnte.
Es leuchtet ein: Nur wenn diese Orte wieder einen Bahnanschluss erhalten und mit dem bestehenden Regional- und Fernverkehrsnetz verbunden werden, haben die dort lebenden Menschen überhaupt die Wahl, statt eines Pkw den umweltfreundlichen Zug zu nutzen. Bei 67 der betreffenden Orte erscheint nach den Untersuchungen von VDV und ApS die Reaktivierung der bestehenden Bahntrassen für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) sinnvoll und praktikabel. Damit könnten in den Mittelzentren fast 1,3 Mio. Einwohner wieder an den Eisenbahnpersonenverkehr angeschlossen werden.
Der Kommunikationsleiter beim VDV Lars Wagner ist über solche Beispiele wie in Baden-Württemberg begeistert. „Wir sind in Deutschland sehr kompliziert“, äußerte Wagner gegenüber dem bahn manager. „Beim Thema Neubau oder der Erneuerung von bereits vorhandenen Bauten – warum muss ich immer eine komplette neue Planfeststellung machen, wenn doch da eigentlich schon ein Gleis liegt und ich das nur modernisieren oder ausbauen möchte? Warum muss ich immer, wie wir ein bisschen scherzhaft sagen, mit dem Goldstandard planen, also mit dem teuersten, mit dem größten Aufwand, wo doch auch bautechnisch andere Lösungen sinnvoll und machbar wären, die auch dafür sorgen würden, dass es schneller geht!“
Wenn übertrieben hohe Kosten angesetzt werden, hat das zudem einen weiteren unangenehmen Nebeneffekt: Bei der Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen werden einem Projekt dann schnell Bundeszuschüsse versagt. Darauf verweist auch VDEI-Vizepräsident Murach: „Nach der Bundeshaushaltsordnung dürfen aus Bundesmitteln des Bundesverkehrswegeplans keine Projekte gefördert werden, die beim standardisierten Bewertungsverfahren einen Wert kleiner eins als Ergebnis haben.“
Letztlich, davon ist Murach überzeugt, sollten am besten gar keine (negativen) Bescheide mehr ausgestellt werden, bevor dieses standardisierte Bewertungsverfahren reformiert ist. „Denn dieses Verfahren bevorteilt Regionen mit einer Prosperität wie in Süddeutschland, wo es viel Nachfrage gibt. Aber Raumordnungskriterien, wie man gerade eine Region entwickeln will, finden zu wenig Beachtung, und auch der Klimaschutz und auch die Resilienz. Das heißt, das Grenzwertverfahren sollte nochmal auf den Prüfstand und überarbeitet werden.“

Kommunen als Bahnunternehmer – geht das?
Etwas milder sieht die Lage Frank von Meißner. Der Eisenbahnbetriebsleiter der Ablachtalbahn berät Kommunen bei dem Weg zur „eigenen Eisenbahn“. Von Meißner verweist wie auch der VDV darauf, dass mit der Novellierung der Standardisierten Bewertung zum 1. Juli 2022 Bundesgelder leichter zu bekommen seien. Denn neue Nutzenkomponenten wie Lebenszyklus­emissionen für Infrastruktur und Fahrzeuge, die Anrechnung des Nutzens gesellschaftlich auferlegter Investitionen in Brandschutz und Barrierefreiheit sowie weiterer fakultativer Nutzendimensionen des Klimaschutzes erleichterten es, den Beweis der Wirtschaftlichkeit von Streckenrevitalisierungen zu erbringen.
 Schwierig ist es nach wie vor in einem Bundesverfahren, den Nutzen für Güterverkehre in die Berechnungen einzubringen. Ein eigenes Budget dafür gibt es überhaupt nicht. Das Bewertungsverfahren ist eindeutig einseitig auf den Nutzen im Personenverkehr ausgerichtet. Allerdings kann ein kommunales Infrastrukturunternehmen aus einem anderen Finanztopf 90 % der nötigen Finanzen erhalten. Das Stichwort heißt GVFG – Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Wenn aus diesen Mitteln der Hauptteil der Kosten getragen wird, gibt es beispielsweise in Baden-Württemberg noch 5 % Landeszuschuss und später 75 % Zuschuss des Landes zu den Instandhaltungskosten einer kommunalen Bahnstrecke. Dazu kommen Bestellung und Bezahlung von SPNV-Betrieben beispielsweise im Schülerverkehr durch das Land. Eine kommunale Eisenbahn sei also finanziell keineswegs ein „Fass ohne Boden“.
Doch auch Frank von Meißner fordert gegenüber dem bahn manager die weitere Aktualisierung des Kriterienkatalogs für die Berechnung der Standardisierten Bewertung: „Insgesamt ist es wichtig, dass zum Beispiel Schülerverkehre angemessen berücksichtigt werden, dass auch der positive Nutzen von Güterverkehr mehr ins Kalkül gezogen wird, dass Klimaauswirkungen der Verkehrsträger stärker gewichtet werden und, was aus meiner Sicht ein noch nicht gelöstes Problem ist: Wir haben viele Verkehrssysteme, die an der Kapazitätsgrenze arbeiten, insbesondere im Personenverkehr. Kapazitätserweiternde Strecken, also eine parallele Führung einer parallelen ergänzenden Bahn-Strecke beispielsweise, sieht momentan der Kriterienkatalog des GVFG nicht vor. Und das ist ein Riesenproblem, gerade weil eben viele Verkehrsnetze an der Kapazitätsgrenze arbeiten und ein Ausbau dort notwendig wäre.“
Schnellzugstrecken sind revitalisierte Bahnlinien wie in der Schwäbischen Alb gewiss nicht. Doch immer mehr neu gewonnene Touristen kommen gerade, weil sie aus gemächlich dahin zuckelnden Wagen die reizende Landschaft besser genießen können. Auch die einheimische Bevölkerung nimmt die neuen-alten Zugverbindungen an. Betriebsleiter von Meißner fand sogar am Beispiel Seehäsle heraus: Die Grundstückspreise entlang von reaktivierten / aufgewerteten SPNV-Strecken entwickeln sich sehr positiv. Und auch der lokale Güterverkehr auf der Schiene kommt zurück und wird ausgebaut. Das ist zwar nicht vergleichbar mit Ganzzügen von Rotterdam nach Genua. Doch jede Tonne Fracht auf der Schiene ist positiv für die Klimabilanz und entlastet die Gemeinden vom Schwerlastverkehr auf der Straße.

Grenzüberschreitende Bahnstrecken fördern
Bei der Reaktivierung von alten Bahnstrecken sollte nach Meinung des VDV und der ApS der grenzüberschreitende Bahnverkehr ins Ausland nicht vergessen werden. Der VDV identifizierte 17 sinnvolle Grenzverbindungen, die reaktiviert beziehungsweise ertüchtigt werden sollten: vier in die Niederlande, zwei nach Belgien, vier nach Frankreich, eine in die Schweiz, fünf nach Tschechien und eine nach Polen. Im Grenzbereich dauert alles offenbar besonders lange. Die deutsch-polnische Bahnüberquerung Guben-Gubin brauchte 22 Jahre, bis sie für den Personenverkehr reaktiviert wurde – und das vor allem auf nachdrücklichen Wunsch Polens.
Auch hier behindern die Maßgaben der Standardisierten Bewertung im deutschen Förderrecht derzeit ein beherztes Aufgreifen dieser Wünsche, erläutert Dr. Murach: „Es gibt verschiedene Länder, dazu gehören auch Polen und Frankreich, die keine Prognosedaten vorweisen können. Die denken nach Raumordnungskriterien oder denken in EU-Förderperioden, und sie können keine Daten eingeben, was 2040 sein wird. Diese Prognosedaten sind aber Bestandteil des deutschen Bewertungsverfahrens. Dann bleibt dem Bund nichts anderes übrig, als das Nachbarland als weißen Fleck zu betrachten und höchstens kleine Annahmen zu machen über eine behutsame Steigerung der aktuellen Reisendenzahlen.“
Jürgen Murach plädiert für ein ähnliches Herangehen an diese Vorschläge wie bei den 17 Verkehrsprojekten Deutsche Einheit: „Die wurden ohne standardisiertes Bewertungsverfahren realisiert. Wahrscheinlich wären sonst alle Projekte durchgefallen. So etwas Ähnliches brauchen wir auch für die Verkehrs­projekte europäische Einigung, wo es um die Entwicklung des grenzüberschreitenden Verkehrs geht ohne diese Wirtschaftlichkeitsberechnung. Das ist heute umso wichtiger, seitdem wir ja auch die Zeitenwende haben. Das heißt, solche Strecken Richtung Ukraine oder Baltikum, die können nicht nach Wirtschaftlichkeitskriterium berechnet werden, da wichtige strategische und Sicherheitsinteressen auch damit verbunden sind.“
Murach plant für den VDEI in den nächsten Monaten eine internationale Grenzlandkonferenz, bei der die Reaktivierung von Grenzstrecken nach Frankreich und Polen und auch positive Beispiele bereits stattfindender Kooperation besprochen werden sollen. Beim für den Bahnverkehr zuständigen polnischen Vizeminister Andrzej Bittel trifft Dr. Murach offenbar damit auf offene Ohren. Gegenüber dem bahn manager erklärte Bittel: „Wir sollten auf den Grenzraum nicht durch das Prisma der Grenze schauen, sondern das Verbindende sehen. Das ist in der Tat die richtige Richtung.“

Artikel Redaktion Eurailpress
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