Interviews

Dr. Dieter Wilhelm

"Wir sind ein Systemlieferant"

Knorr-Bremse hat in den vergangenen Jahren erhebliche Wachstumssteigerungen erreicht. ETR sprach mit Schienenfahrzeug-Vorstand Dr. Dieter Wilhelm über Märkte und Innovationen.

Dr. Wilhelm, wie verlief für Sie die InnoTrans?
Die Bedeutung der InnoTrans hat weiter zugenommen. Dies spiegelt sich auch in der internationalen Teilnahme von Ausstellern aus der ganzen Welt wider. Gegenüber der letzten InnoTrans hatten wir noch mehr Kunden aus Asien und den USA und somit Gelegenheit, unseren Systemgedanken zu präsentieren und neue Produkte vorzustellen. Auf der InnoTrans haben wir einige bedeutende Aufträge bekommen. Einer war für uns ganz entscheidend: JR East hat uns auf der Messe mit der Ausstattung des neuen E7 Shinkansen beauftragt, eine Woche später zog JR West für den W7 nach, sodass wir unseren Kundenstamm in Japan erweitert haben. Aber auch mit einer Reihe von anderen Kunden haben wir Aufträge abschließen können, beispielsweise mit Voith einen Rahmenvertrag über 500 Lokomotiven für Russland. Außerdem gibt es Zusagen, unsere Trainingsdienstleistungen bei Kunden einzuführen.

 

Sie liefern seit dem E5 die Bremssysteme für den Shinkansen?
Nach der Plattform E5 haben wir vor rund einem Jahr den Auftrag bekommen, für den Shinkansen E6 Systeme für die Drehgestellausrüstungen zu liefern. Aufgrund der guten Erfahrungen mit unseren Produkten haben wir nun den Auftrag zur Lieferung von weiteren Systemen für 17 plus 10 Züge mit jeweils zehn Triebwagen der neuen E7/W7 Plattformen bekommen. Unsere langjährige Verbundenheit zu unseren japanischen Kunden hat sich somit ausgezahlt.

 

Was mussten Sie tun, damit sich der japanische Markt öffnet?
Wir arbeiten mit unseren japanischen Kunden bereits seit vielen Jahren zusammen. Gemeinsam haben wir unsere Produkte über viele Jahre entwickelt, Tests im Labor durchgeführt, auf dem Rollenprüfstand getestet und in Vorserienzügen eingesetzt. Auf Grund der guten Ergebnisse z.B. bei den niedrigen Lebenszykluskosten haben sich JR East und nun auch JR West für den Einsatz unserer Systeme entschieden.

 

Beim neuen ICx sind Sie nicht dabei.
Im ICx-Projekt haben wir uns nicht positioniert, weil Knorr-Bremse den Systemgedanken mit klaren Schnittstellen verfolgt, der für den Betreiber von großem Nutzen ist und auch für den Fahrzeugbauer. Wir verstehen uns nicht als Komponentenlieferant. Aus Gründen der Sicherheit, Zuverlässigkeit und Optimierung der Lebenszykluskosten liefern wir nur Systeme.

 

Das Knorr-Bremse-Motto lautet „Efficient. Technology. Worldwide“. Was verstehen Sie unter „Efficient“?
Das Motto vereint die für Knorr-Bremse und die Schienenfahrzeugindustrie relevanten Themen. Wo viele Güter und Passagiere transportiert werden, muss dies effizient, sicher und umweltfreundlich passieren – Knorr-Bremse treibt seit mehr als 100 Jahren als technologischer Schrittmacher die Entwicklung von Bremssystemen und sicherheitsrelevanten Systemen am Zug maßgeblich voran und möchte auch die Zukunft des Schienenverkehrs aktiv mitgestalten. Wir sehen es als unsere Aufgabe, die Entwicklung von Bremssystemen und anderen sicherheitsrelevanten Themen voranzutreiben. „Efficient“ hat für uns verschiedene Facetten. Durch zunehmenden Kostendruck werden die Lebenszykluskosten immer entscheidender für die Betreiber. Wir wollen Einsparungen durch Energieeffizienz erreichen. Unsere Produkte werden nach den Gesichtspunkten „geringes Gewicht“ und „kompakte Bauweise“ entwickelt, um Energieeinsparungen zu erreichen. Geringer Verschleiß und hohe Lebensdauer senken die Lebenszykluskosten weiter. Neue Produkte wie das Fahrerassistenzsystem LEADER können im Betrieb eine Energieeinsparung von bis zu 15% erreichen. Wenn Sie an die langen Güterzüge in USA oder Australien denken, die Eisenerz transportieren, können Sie sich die erhebliche Größenordnung der Einsparungen vorstellen. Ein weiteres Thema ist für uns Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Deshalb bieten wir Systeme wie den ölfreien Kompressor an, die ganz daraufhin optimiert sind.

 

Und „Technology. Worldwide“?
„Technology“ steht für die Innovationskraft und technologische Führerschaft von Knorr- Bremse. Sicherheit und Qualität stehen dabei an erster Stelle. „Worldwide“ drückt aus, dass Knorr-Bremse inzwischen in fast jedem Land der Welt vertreten ist. Es steht dafür, dass wir Fahrzeugbauern und Systemhäusern aus der ganzen Welt, ob aus Südafrika oder Nordamerika, aus Skandinavien, Japan oder Australien, immer den geforderten Local Content bieten können. Wir können beispielsweise bei der Homologierung von Systemen unterstützen, was heutzutage immer entscheidender wird. Wir verfügen als einziger Hersteller über Prüfstände für alle weltweiten Standards – UIC, ARA, AAR und GOST. Das ist ein einzigartiger Vorteil, den wir unseren Kunden bieten können. Unter Zusammenarbeit verstehen wir nicht nur die einmalige Lieferung eines Produktes, sondern die Begleitung über den ganzen Lebenszyklus eines Fahrzeuges hinweg. Das zeichnet uns aus und gibt uns einen Wettbewerbsvorteil.

 

Wie stark sind Sie in den einzelnen Regionen vertreten?
Wir haben als Konzern im vergangenen Jahr erstmals jeweils mehr als 1 Mrd. EUR Umsatz in allen Regionen erzielt, bei einem Gesamtumsatz von über 4 Mrd. EUR. Damit sind wir gut aufgestellt.

 

Wie schätzen Sie den Markt in den kommenden 5 Jahren ein?
Im Schnitt gehen wir von einem Marktwachstum von 3 bis 4 % pro Jahr aus. Damit liegen wir in etwa auf dem Niveau, wie es neutrale Studien zum Beispiel von SCI voraussagen. Wir sind vielleicht etwas optimistischer. Natürlich gibt es regional sehr große Unterschiede. Ein starkes Wachstumsland ist Russland. Dort waren wir sehr erfolgreich mit Importprodukten und der Ausstattung von Reisezugwagen, aber auch mit unserem neuen Güterwagenventil oder On-Board-Produkten wie Klimaanlagen. Auch in russlandnahen Märkten konnten wir Erfolge verbuchen, beispielsweise liefern wir Systeme für bis zu 495 Lokomotiven in Kasachstan. Indien ist ebenfalls ein starker Wachstumsmarkt. Im Güterverkehr werden wir durch die Einführung unserer modernen Technologien stark wachsen. Im Passagierbereich rechnen wir mit Wachstum, weil dort immer mehr Metrosysteme zum Einsatz kommen. Sogar eine Hochgeschwindigkeitsstrecke ist geplant, wenn auch nicht über 300 km/h, sondern eher mit Geschwindigkeiten von 160 km/h. In Südafrika gibt es ebenfalls große Planungen, zum Beispiel das PRASA-Projekt mit rund 7.000 Wagen, und ein weiteres Projekt über die nächsten 20 Jahre mit 1.000 Lokomotiven. Voraussichtlich werden hier die ersten Entscheidungen Ende des Jahres gefällt. Aufgrund der Eisenerzproduktion boomt Australien momentan im Güterwagenmarkt, doch auch einige neue große Nahverkehrsprojekte stehen an.

 

Welches sind die schwächeren Märkte?
Im Nahen und Mittleren Osten schätzen wir die Situation inzwischen etwas weniger euphorisch ein. Die Projekte, die wir vor 5 Jahren gesehen haben, werden zwar realisiert, aber in deutlich geringerem Tempo und geringerem Umfang als bisher angenommen. In Nordamerika gehen wir nach einem starken Wachstum im Güterbereich in diesem Jahr eher von einer Stagnation aus. Dort gelten ab 2015 neue Emissionsrichtlinien für Diesellokomotiven. Es wird zu einem Pre-buying-Effekt kommen mit Peak in 2014. Für 2015 rechnen wir deshalb erst einmal mit einem Rückgang. In China hat sich in den letzten Jahren das Wachstum verlangsamt, es ist für uns aber weiterhin ein ganz wichtiger Markt. In Südeuropa entwickelt sich der Markt natürlich auf einem wesentlich geringeren Niveau als wir dies vor einigen Jahren geschätzt haben. Durch die Finanzkrise haben wir den einen oder anderen Rückgang bei Investitionen in Nahverkehrsprojekten erlebt.

 

Was sind für Sie die wichtigsten Innovationsstellschrauben?
Niedrige Lebenszykluskosten sind für uns ausschlaggebend. Wir arbeiten an Gewichtsreduzierung, höherer Verfügbarkeit und kompakten Bauweisen. Weitere Themen sind die Integration von Mechanik und Elektronik zu mechatronischen Elementen sowie Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Emissionsreduzierung.

 

Wie setzen sich diese Themen in Innovationen um?
Wir haben zum Beispiel für einen der großen Wachstumsmärkte, Russland, ein Steuerventil für Güterwagen für Temperaturen bis minus 60 Grad entwickelt. Augenblicklich erproben wir das neue Ventil im Feld in 5 Güterzügen – es funktioniert einwandfrei. In die Entwicklung haben wir mehrere Millionen Euro investiert, unter anderem in einen Prüfstand, der den russischen Normen entspricht. Wir haben dadurch jetzt für den russischen Markt mit rund 1 Mio. Güterwagen ein Produkt im Angebot, das um Faktoren besser ist als vorhandene Ventile, wenn man die Lebenszykluskosten und die Wartungsabstände betrachtet. Wir werden demnächst in Russland ein Joint Venture abschließen und erwarten dann, dass wir aufgrund dieses Güterwagenventils deutliche Wachstumsraten haben werden. Für andere Regionen gilt Ähnliches. Wir haben spezielle Bremssysteme für Indien entwickelt, mit höherer Energieeffizienz und niedrigeren Lebenszykluskosten. Damit haben wir einen hohen Umsatz und beträchtliches Wachstum in den vergangenen Jahren erzielen können. Wir arbeiten auf dem Gebiet Lärmschutz nicht nur an leiseren Bremsbelägen, sondern wir berücksichtigen auch, dass das Hauptgeräusch vom Fahrbetrieb und nicht von den Bremsen selbst kommt. Unsere Bremsklötze beeinflussen die Lauffläche der Räder und damit auch den Lärmschutz positiv. Auch für den Hochgeschwindigkeitsbereich haben wir spezielle lärmarme Beläge entwickelt, welche z.B. im neuen NTV „Italo“ verwendet werden. Teilweise kann man auch durch die Geometrie einer Bremsscheibe, nämlich durch eine veränderte Luftströmung und somit geringere Luftwiderstände, die Geräusche deutlich reduzieren. Das haben wir beispielsweise beim japanischen Shinkansen getan. Durch die von uns entwickelte Bremsscheibe konnten wir die Geräuschbelastung signifikant und nachhaltig verringern.

 

Im Umsatz liegen die beiden Divisionen Schienen- und Nutzfahrzeuge mit jeweils rund 2 Mrd. EUR weitgehend gleichauf. Bleibt es dabei oder wird es Verschiebungen in die eine oder andere Richtung geben?
Mit diesen beiden Standbeinen, die ungefähr gleich stark sind, sind wir gut aufgestellt. Das war in der Finanzkrise schon einmal anders, als der Nutzfahrzeugbereich deutlich zurückgegangen ist. In dieser Zeit haben wir aber durch unser regionales Wachstum, vor allem in China, für die Gesamtgruppe einen positiven Effekt erzielen können. Die jetzt erreichte Ausgewogenheit der Divisionen und Regionen gibt uns Stabilität. Natürlich liefere ich mir mit meinem Nutzfahrzeugkollegen Klaus Deller ein Kopf-an-Kopf-Rennen darum, wer 20 oder 50 Mio. mehr Umsatz im kommenden Jahr erzielt. Wir liegen in einem gesunden Wettbewerb miteinander, profitieren aber gleichzeitig von Synergien, zum Beispiel bei der Entwicklung von speziellen Materialien. Knorr-Bremse ist so sehr gut aufgestellt. Beide Divisionen hatten bisher Gelegenheit, sich positiv zu entwickeln.

 

In der Unternehmensgeschichte wird betont, wie wichtig es war, sich klar auf Bremssysteme für Schienen- und Nutzfahrzeuge zu konzentrieren. Jetzt haben Sie einige Produkte im Portfolio, die mit Bremsen nichts mehr zu tun haben. Wie fügen sich diese in die Unternehmensphilosophie ein?
Wir haben bei Bremsen einen relativ großen Marktanteil, weltweit. Wir haben uns deshalb natürlich überlegt, in welchen Bereichen wir weitere sicherheitsrelevante Produkte in unser Portfolio aufnehmen können. Schon vor vielen Jahren haben wir uns für Türen entschieden. Türen sind ein sicherheitsrelevantes Produkt. Stellen Sie sich nur einmal vor, was passiert, wenn eine Tür bei 300 km/h aufgehen würde. Wir haben auch gesehen, wie wichtig funktionierende Klimaanlagen sind. Denken Sie an die heißen Sommer – nicht nur in Deutschland, sondern in Ländern mit einer hohen Luftfeuchtigkeit oder in heißen klimatischen Bedingungen wie Saudi- Arabien. Gut funktionierende Klimaanlagen sind hier extrem wichtig. Sicherheitsrelevante Themen sind der Kern unseres Produktportfolios. Dazu zählen wir heute auch Angebote wie die Simulationssoftware. Unsere Systeme sind sehr ausgeklügelt, wir können die schwierigsten Wetter- und Verkehrsverhältnisse simulieren. Wenn wir Fahrer auf diese Weise schulen können, trägt dies zu erhöhter Sicherheit, bei gleichzeitig niedrigen Kosten, bei.

 

Wie reagieren Sie auf den Kostendruck im Nahverkehr?
Die Hauptstoßrichtung bei Knorr-Bremse sind niedrige Lebenszykluskosten. Darauf hin optimieren wir unsere Produkte. Außerdem bieten wir mit Knorr-Bremse über die gesamte Lebenszeit unserer Produkte maßgeschneiderte Pakete für Instandhaltung und Wartung an, durch die wir beim Kunden sicherstellen, dass die Produkte sicher über 30 und mehr Jahre funktionieren. Vor Kurzem haben wir für die S-Bahn-Berlin die gesamte Flotte mit modernen Sandungsanlagen ausgerüstet. Die Funktionsüberwachung erfolgt nun automatisch. Damit können mehr Fahrzeuge in den Betrieb gehen und stehen dem Betreiber im Netz zur Verfügung. Ein weiteres Beispiel ist die Nachrüstung mit ölfreien Kompressoren, die beim Betreiber erheblich weniger Kosten verursachen. Bei unserer Fahrersassistenzsoftware LEADER, die anhand der Streckendaten energiesparende Fahrvorschläge macht, greifen die Einsparungen sofort.

 

Fachkräftemangel gilt in der Branche als großes Problem. Was tun Sie?
Weniger als 20 % unserer Mitarbeiter im Schienenfahrzeugbereich sind in Deutschland tätig. In jeder Kultur stehen wir anderen Herausforderungen gegenüber. In Indien gewinnen und halten wir auf andere Art und Weise Fachkräfte als in China oder in Australien. Als global tätiges Unternehmen müssen wir uns auf vielfältige Kulturen einstellen. Prinzipiell, und damit natürlich auch in Deutschland, spielt das Halten von Mitarbeitern und die Neugewinnung eine große Rolle. Wir haben deshalb in den vergangenen 12 Monaten einige Projekte entwickelt, um die Zufriedenheit unserer Mitarbeiter und unsere Arbeitgeberattraktivität zu steigern. Dazu gehören Lohn- und Gehaltserhöhungen, Telearbeit, Sabbaticals, Teilzeitmodelle, aber auch weiche Faktoren wie die Definition von Unternehmenswerten im weitesten Sinne. Wir bilden selbst Fachkräfte aus und versuchen sie dann langfristig an unser Haus zu binden. Hier in München gibt es eine hohe Konkurrenz unter den Arbeitgebern. Wichtig ist jedoch im Hinterkopf zu behalten, dass wir nicht nur ein deutsches, sondern ein globales Unternehmen sind, mit vielfältigen Herausforderungen im Personalmanagement.

 

Dr. Wilhelm, vielen Dank für das Gespräch

 

(Das Gespräch führte Dagmar Rees.)

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Artikel von Interview aus der ETR Ausgabe 11/12
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