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Ingo Wortmann: Der Paradigmenwechsel hat stattgefunden

Ingo Wortmann; Quelle: VDV

Ingo Wortmann ist Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und Vorsitzender der Geschäftsführung der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG). Das Deutschland-Ticket stellt Gewohntes auf den Kopf und kann gelingen, wenn alle ihren Beitrag leisten.

Seit einigen Wochen nutze ich mit viel Vergnügen das Deutschland-Ticket. Ich weiß jedoch, dass dieses Ticket eine enorme Kraftanstrengung für die Verkehrsunternehmen war. Können Sie dies genauer beziffern?

Auch ich fahre seit dem 1. Mai mit dem Deutschland-Ticket ins Büro, ebenso meine Frau. Das Ticket ist eine wunderbare Sache. Tatsächlich war es ein riesiger Kraftakt. Manchmal musste ein digitaler Vertriebsweg erst geschaffen werden. Manche Verkehrsunternehmen hatten eine Chipkarte, aber kein Handy-Ticket. Bei uns in München war es umgekehrt: Wir hatten schon ein Handy-Ticket und arbeiten jetzt an einer Chipkarte und geben bis dahin für drei Monate noch Papier aus. Wir haben in München Personal akquirieren müssen, teilweise wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus ihrer Bürotätigkeit in den Vertrieb geschickt, damit die Tickets verkauft werden konnten.
Natürlich hat die Einführung Geld gekostet - wie viel, werden wir in den kommenden Monaten genauer beziffern können. Ich gehe auf jeden Fall davon aus, dass die 3 Mrd. Euro, die als Ausgleich zur Verfügung stehen, nicht ausreichen werden. Ich rechne mit einem weit höheren Betrag, bis zu 4 Mrd. Euro.

Bei manchen Verkehrsunternehmen gab es noch gar keine Digitalisierung - sind die jetzt abgehängt, weil das Deutschland-Ticket nur als digitales Ticket vertrieben werden soll?

Tatsächlich ist der Stand der Digitalisierung sehr unterschiedlich. Das heißt jetzt nicht zwangsläufig, dass jeder kleinere Verbund oder jedes kleinere Verkehrsunternehmen digitale Vertriebskanäle haben muss. Es gibt Anbieter, die Lösungen anbieten, Mobility Inside beispielsweise, oder andere kommerzielle Anbieter. An diese können sich die Verbünde und Unternehmen wenden und so ihre Tickets verkaufen. Für solche Lösungen gibt es viele Interessenten.

Das Grundgerüst für das Deutschland-Ticket steht - wer will, kann ein Ticket kaufen und es bundesweit nutzen. Was ist jetzt noch zu tun?

Vieles. Wir haben in der ersten Welle schon sehr viele Deutschland-Tickets verkauft - jetzt müssen wir natürlich weiterverkaufen. Wir müssen das Deutschland-Ticket auch in einem laufenden Monat verkaufen können, mit einer Verrechnung der nicht genutzten Tage.
Außerdem müssen wir bundesweit einen Überblick gewinnen, was regional an zusätzlichen Angeboten umgesetzt wurde. Stichworte sind beispielsweise die Mitnahme von Familienangehörigen und die Übertragbarkeit des Tickets. Das müsste anhand der Kundenreaktionen bewertet und letztendlich auch vereinheitlicht werden. Dies ist sicher auch eine Aufgabe der Länder. Ganz wichtig ist natürlich eine bundesweite Regelung über die Einnahmeaufteilung – und zwar bald. Diskussionen über die Einnahmeaufteilung in Verkehrsverbünden haben in der Vergangenheit durchaus schon zehn Jahre gedauert. So viel Zeit haben wir nicht. Wir müssen deutlich schneller fertig werden.

Augenblicklich wird anhand historischer Daten verteilt. Über welche Lösungen für die Einnahmeaufteilung beim Deutschland-Ticket wird gesprochen?

Im Moment diskutieren wir ein Modell der Verteilung nach Postleitzahlen. Die zugrunde liegende These hier ist, dass das Deutschland-Ticket auch dort am meisten genutzt wird, wo die Fahrgäste wohnen. Allerdings haben Städte wie München einen sehr hohen Anteil an Touristen aus anderen Regionen, die sich bisher Einzel-, Tagesoder Wochentickets gekauft hatten.

Wird darüber nachgedacht, auch Mobilfunkdaten zu nutzen? Die können heute schon sehr genau nachzeichnen, wo und mit welchem Verkehrsmittel sich Menschen bewegen?

Das wäre auch eine Möglichkeit – wenn die Fahrgäste der Nutzung der Mobilfunkdaten zustimmen. Natürlich gibt es noch weiterhin die klassischen Instrumente wie Fahrgastbefragungen. Wir werden die Effekte des Deutschland-Tickets sehr genau beobachten und auswerten. Augenblicklich ist alles im Fluss.

Für Deutschland ist das ungewöhnlich - erst Fakten schaffen und dann schauen, was passiert.

So wie wir als Gesellschaft und als Land aufgestellt sind, erfolgen Veränderungen augenblicklich meist durch Disruption und nur noch ganz selten über Entwicklungsprozesse. Wir hatten immer gesagt, dass zuerst das Angebot verbessert und dann ein attraktives Ticket eingeführt werden sollte. Wenn die Politik die Reihenfolge umkehrt, ist das auch in Ordnung, das will ich gar nicht kritisieren. Es ist gut, dass es das Deutschland-Ticket gibt und wir die Umstellung geschafft haben. Aber wir dürfen den Angebotsausbau darüber nicht vergessen.

Was brauchen die Verkehrsunternehmen mittel- und langfristig, um einen Nahverkehr anbieten zu können, wie ihn sich die Bevölkerung wünscht?

Als VDV hatten wir schon vor der Corona-Pandemie ein Gutachten erstellen lassen, wie viel Mehrleistung wir im Öffentlichen Personennahverkehr bereitstellen müssen, um unseren Klimabeitrag leisten zu können. Diese Mehrleistungen haben wir in Euro umgerechnet und sind auf einen Betrag von 48 Mrd. Euro bis 2030 gekommen, allein 11 Mrd. davon im Jahr 2030. Wahrscheinlich liegt der Betrag aufgrund gestiegener Material- und Personalkosten sogar noch darüber - doch zumindest die Größenordnung ist klar. Diese Gelder brauchen wir, um das Angebot so attraktiv zu machen, dass es weniger Autoverkehr gibt. Was wir brauchen, ist nicht nur eine Investitions-, sondern auch eine Betriebskostenförderung. Für Deutschland ist dies ungewöhnlich, doch wenn wir die Takte verdichten und vor allem auch auf dem Land mehr Angebote schaffen wollen, ist diese Betriebskostenförderung unbedingt notwendig. Erst recht, wenn durch das Deutschland-Ticket auch künftig eher nicht mit zusätzlichen Fahrgeldeinnahmen zu rechnen ist.

Sie vertreten schon seit Jahren die Auffassung, dass der öffentliche Nahverkehr nicht nur aus sich selbst und den Zahlungen der öffentlichen Hand finanziert werden sollte, sondern dass auch andere Verkehrsträger, zuallererst das Auto, ihren Beitrag leisten müssten. Was sehen Sie heute für Möglichkeiten?

Mit dem Aufbrechen der getrennten Finanzierungskreisläufe Straße / Schiene fand schon ein Paradigmenwechsel statt. Denn der Grundsatz, dass die Verkehrsträger sich selbst finanzieren müssen, ist jetzt gebrochen. Wir müssen stärker in Richtung neuer Finanzierungssysteme denken. Ideen sind beispielsweise eine U-Bahn-Steuer für Arbeitgeber, wie sie Wien schon hat. Auch könnten Einnahmen aus der Parkraumbewirtschaftung für den öffentlichen Nahverkehr eingesetzt werden.

Es wurde auch schon der Vorschlag gemacht, dass die Autoindustrie bei jedem Verkauf eines Autos eine ÖPNV-Abgabe leisten sollte.

Die Wirtschaft derart zu belasten ist ein eher unkonventioneller Vorschlag, aber wir sollten erstmal über alle Möglichkeiten diskutieren, davon ausgehend, dass umweltverträgliche Verkehrsmittel wie der öffentliche Personennahverkehr finanziert werden müssen, ohne dabei die Haushalte der öffentlichen Hand über die Maßen dauerhaft zu belasten. Es wird also Umwidmungen von Mitteln geben müssen und ganz neue Finanzierungssysteme. Man muss auch Wege finden, jene Menschen, Unternehmen und Institutionen, die einen Vorteil durch den öffentlichen Schienenpersonennahverkehr haben, zur Finanzierung heranzuziehen. Am Ende müssen dann alle Maßnahmen auch sozial ausgewogen sein, denn eine Klimawende, die nicht sozial ausgewogen ist, kann ich mir in Deutschland nur schwer vorstellen.

Erübrigen sich durch das Deutschland-Ticket andere Tarife?

Bedingt durch das Deutschland-Ticket, müssen wir augenblicklich schwierige Diskussionen führen, beispielsweise bei den Kombitickets, die zu Veranstaltungen angeboten werden. Manche Veranstalter argumentieren, dass diese Kombitickets nicht mehr notwendig seien, weil sowieso alle Besucherinnen und Besucher ein Deutschland-Ticket hätten. Oft müssen wir jedoch für Großveranstaltungen Mehrleistungen erbringen, die wir bisher aus den Einnahmen für das Kombiticket finanziert haben. Diese Einnahmen würden ohne Kombiticket wegfallen, doch die Mehrleistungen, die zum Teil sehr aufwendig sind, müssten wir weiter erbringen. Ohne zusätzliche Fahrzeuge und Personal kann beispielsweise ein großes Fußballbundesliga-Spiel nicht zufriedenstellend mit dem ÖPNV bedient werden. Vielleicht gibt es dann zwar kein Kombiticket mehr, aber die Veranstalter müssen über einen noch zu definierenden Betrag für die Mehraufwendungen im ÖPNV zahlen.

Auch das klassische Jobticket wird von Unternehmen, die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bisher damit ausgestattet haben, in Frage gestellt. Außerdem überlegen sich wohl viele Großunternehmen, wenn sie sich für das Deutschland-Ticket als Jobticket entscheiden, dieses nur noch bei einem einzigen Verkehrsverbund beziehungsweise Verkehrsunternehmen zu kaufen. Damit konzentrieren sich die Einnahmen immer mehr, regional und auf einzelne Verbünde und Verkehrsunternehmen.

Es gibt tatsächlich den Trend, dass sich die Konzernzentralen überlegen, alle Deutschland-Tickets dann nur noch beim Verkehrsverbund / Verkehrsunternehmen am Hauptsitz zu kaufen. Da in München viele Konzerne ihren Hauptsitz haben, ist das für die MVG und den MVV kein so großes Problem. Allerdings muss man dann vor Ort auch erstmal großen Mengen bewältigen können - darauf bereiten wir uns vor. Allerdings ist es für große Firmen nicht nur von Vorteil, wenn sie alles an einem Standort konzentrieren - darauf weise ich in Gesprächen immer wieder hin. Wenn man zum Beispiel eine Produktion an einem anderen Ort hat und eine Änderung im Schichtplan umsetzen will, ist es für die Kommunikation mit dem ÖPNV-Anbieter vor Ort sicher von Vorteil, als Unternehmen auch Verträge und damit direkten Kontakt mit diesem ÖPNV-Anbieter zu haben.

Alles ist in Bewegung?

Wir müssen jetzt sehr genau beobachten, was passiert, und daraus unsere Schlüsse für unsere künftige Tarifstruktur ziehen. Angesichts der sehr kurzen Vorbereitungszeit schon im Vorfeld Marktforschung zu machen, die Folgen für die Tarifstruktur insgesamt abzuschätzen und Entscheidungen über die zukünftige Finanzierungsstruktur zu treffen, wäre unrealistisch gewesen. Wir beobachten jetzt ex post, wie sich die einzelnen Vertriebskanäle entwickeln und was zu tun ist, um Kannibalisierung zu vermeiden. Natürlich wird es irgendwann eine Bereinigung des Angebotsportfolios geben – denn im Großraum München kann schon eine Wochenkarte teurer sein als ein Deutschland-Ticket für 49 Euro. Die einzige Maßnahme, die wir jetzt schon umgesetzt haben, ist, dass wir das Semesterticket der Studentinnen und Studenten auf das Deutschland-Ticket umgestellt haben.

Der Preis von 49 Euro für das Deutschland-Ticket ist nur bis 30. September dieses Jahres festgeschrieben - rechnen Sie mit Preiserhöhungen ab Herbst?

Ich hoffe, dass wir den Preis länger auf diesem Niveau halten können. Das hängt natürlich davon ab, inwieweit Bund und Länder ab 2024 bereit sind, die tatsächlichen Kosten des Tickets zu tragen und nicht nur die augenblicklich zugesicherten 3 Mrd. Euro. Die Verkehrsunternehmen in Deutschland fahren keine Gewinne ein, so dass die Gewinnquote sinken würde – wir müssen also bei höheren Kosten auch die Tarife für die Fahrgäste erhöhen.

Eine Möglichkeit wäre ja auch, dass die Einnahmen durch zusätzliche Kunden den Rückgang von Einnahmen bei anderen Tarifen ausgleichen könnten beziehungsweise auch Kostensteigerungen auffangen könnten. Lässt sich hier schon eine Entwicklung absehen?

Hierfür ist es noch zu früh. Ich weiß, dass in München von den gleich zu Beginn verkauften 200.000 Deutschland-Tickets beinahe die Hälfte, rund 90.000, an Neu-Abonnenten ging. Diese Zahl hat mich selbst überrascht. Bundesweit sieht es ähnlich aus: In den ersten fünf Wochen seit Beginn des Vorverkaufs haben wir deutschlandweit rund 2 Millionen neue Abos verkauft. Doch zu vieles ist noch offen. So wissen wir nicht, wie im Einzelnen die Entscheidungen bei den Jobtickets fallen werden. Neue Abonnenten bringen außerdem nicht nur mehr Einnahmen, sondern generieren eventuell auch eine höhere Nachfrage, die durch mehr Angebote gedeckt werden muss, die dann wiederum zu höheren Kosten führen. Wie die Rechnung letztendlich aussehen wird, wissen wir nicht – wir können nur erfassen, beobachten, analysieren und dann jeweils die Entscheidungen treffen.

Könnte das Deutschland-Ticket auch ein großer Misserfolg werden?

Das muss auf jeden Fall verhindert werden. Wir Verkehrsunternehmen sind zu allem bereit. Man muss jetzt ohne Denkverbote darüber diskutieren, was geht und was nicht geht, dann wird man auch Lösungen finden. Kontraproduktiv wäre, wenn zwar zu Beginn alle diskutieren und Veränderungen vorantreiben, die Politik dann aber irgendwann einmal auf die Notwendigkeit verweist, die „schwarze Null“ im Haushalt einzuhalten und alle Diskussionen um Kostenausgleich beendet. Der schlimmste Fall wäre, dass wir uns als Verkehrsunternehmen für das Deutschland-Ticket bis an die Grenze des Belastbaren engagieren und es dann, wenn wir in finanzielle Schwierigkeiten kommen, auf Seiten der Politik keine Diskussionsbereitschaft mehr gibt. Das Deutschland-Ticket darf nicht zum Rohrkrepierer werden, weil wir zwar ein tolles Ticket unter die Menschen gebracht haben, aber Umfang und Qualität des Angebots nicht halten konnten.

Das Interview aus Eisenbahntechnische Rundschau führte Dagmar Rees

Artikel Redaktion Eurailpress
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