"Das ist eine internationale Blamage"
Der Unternehmensberater Hans Leister kritisiert die Aufgabe der bisherigen ETCS-Migrationsstrategie.
Die Entscheidung der DB Infrago, ihre ETCS-Migrationsstrategie neu auszurichten, sorgt im Sektor weiter für Diskussionen. Einen überfälligen Schritt sehen die einen sowie eine „Rückkehr zur Realität“. Andere sprechen von einer Kapitulation vor einer komplexen Aufgabe sowie einem kostspieligen Festhalten an veralteter Technik. Zum zweiten Lager gehört Hans Leister. Er ist Gründer des Consulting-Unternehmens Zukunftswerkstatt Schienenverkehr, berät unter anderem zu ETCS und DSTW. Zuvor hat er jahrzehntelange Praxiserfahrung im Bahnsektor gesammelt, darunter als Geschäftsführer von Connex Regiobahn und Keolis Deutschland.
Herr Leister, was dachten Sie als erstes, als Sie hörten, dass die Infrago ihre bisherige ETCS-Migrationsstrategie aufgibt?
Ich dachte, das ist eine klare Fehlentscheidung. Mehr noch: Ich würde sogar von einer internationalen Blamage sprechen. Es kann doch nicht sein, dass der wichtigste Bahnmarkt Europas immer mehr ins Hintertreffen bei der Digitalisierung des Systems Schiene gerät. Immer mehr Länder sind uns in dem Bereich voraus, neben der Schweiz und Österreich sind das inzwischen auch Länder wie Tschechien oder Polen.
In Deutschland ist es eben so, dass unsere herkömmlichen Systeme wie LZB und ESTW immer noch sehr gut funktionieren.
Erstens gibt es Vorgaben der EU hinsichtlich der Digitalisierung, die auch für Deutschland verpflichtend sind. Es geht ja nicht allein darum, das System Bahn zu modernisieren und leistungsfähiger zu machen. Sondern es geht auch darum, einen einheitlichen europäischen Eisenbahnraum zu schaffen, damit die Bahn im Vergleich zu anderen Transportmitteln wie dem Lkw wettbewerbsfähig bleibt.
Zweitens ist die Debatte über die Digitalisierung der Schiene in Deutschland doch nun wirklich lange geführt worden. Es gab einen klaren Plan für das weitere Vorgehen, der auf Basis von Studien erarbeitet wurde. Dass der jetzt einfach kassiert wird, kann ich nicht nachvollziehen.
Sie meinen mit den Studien die beiden McKinsey-Berichte von 2018 und 2022?
Genau. 2018 war nach entsprechender Untersuchung und Begutachtung durch die Unternehmensberatung klar, wie der wirtschaftlich günstigste Weg zu einer modernen Leit- und Sicherungstechnik aussieht: Umstellung auf DSTW und ETCS ohne Signale, vorlaufend notwendig: Ausrüstung der Fahrzeuge. Und 2022 wurde die Richtigkeit dieses Vorgehens auch nochmals von McKinsey bestätigt.
An dieser Stelle sei mir auch noch erlaubt darauf hinzuweisen, dass diese Studien garantiert nicht billig waren. Ich gehe davon aus, dass hier ein Millionenbetrag ausgegeben wurde. Rückblickend stellt sich nun heraus: Das viele Geld wurde schlecht investiert.
Wobei die Studien inhaltlich ja weiterhin ihre Richtigkeit haben dürften.
Auf jeden Fall. Das Problem, das wir in Deutschland bei der Digitalisierung des Systems Bahn haben, ist nicht die Strategie. Das Problem ist die Umsetzung.
Was ist das Hauptproblem dabei?
Im Kern ist jahrelang zu wenig in Sachen Fahrzeugausrüstung passiert. Das Bundesfinanzministerium weigert sich bis heute, den Zusammenhang zwischen streckenseitiger und fahrzeugseitiger ETCS-Ausrüstung anzuerkennen. Weder die DB noch das Bundesverkehrsministerium konnten diesen Widerstand jemals überwinden. Daher stellen wir jetzt fest: Bei der Erneuerung der Stellwerke wird zunächst Doppelausrüstung notwendig, mit riesigen Mehrkosten für Signal, Kabel und Tiefbau.
Richtig ist allerdings auch, dass die DB AG zuletzt gar keine Bundeshaushaltsmittel für eine Fahrzeugausrüstung angemeldet hat.
Das ist zwar richtig. Und ich will mich da auch gar nicht allzu sehr schützend vor die DB stellen. Auch dort sind viele Fehler gemacht worden, die zur Aufgabe der ETCS-Migrationsstrategie geführt haben. In dem Punkt bin ich jedoch bei der DB: Das Finanzministerium wäre besser beraten gewesen, den Widerstand bei der Finanzierung der Fahrzeugausrüstung aufzugeben. Damit spart man Geld bei der Investition in den Fahrweg, aber dieser Prozess muss rechtzeitig aufgesetzt werden und braucht eine längere Vorlaufzeit.
Gehen Sie davon aus, dass der neue Bundesfinanzminister Lars Klingbeil den Widerstand gegen die Förderung fahrzeugseitiger ETCS-Technik aufgibt?
Ich hoffe das sehr, denn ohne diesen Schritt wird auch die nächste ETCS-Migrationsstrategie scheitern. Im Koalitionsvertrag heißt es ja immerhin, man habe das Thema „im Blick“. Am Ende zählen aber Taten und nicht Worte.
Sie sprachen von Fehlern der DB. Welche sehen Sie?
Die DB ist im Projekt Digitale Schiene Deutschland vieles zu kompliziert angegangen. Es fällt schon auf, dass in Deutschland oft Dutzende Balisen eingebaut werden, wo in vergleichbaren Abschnitten in der Schweiz zwei oder drei liegen. Vielleicht liegt das aber auch an der Doppelausrüstung, die wohl auch ETCS komplizierter macht.
Die DB will jetzt LZB verlängern. Was halten Sie davon?
LZB zu verlängern oder – wie zwischen Hamburg und Berlin – sogar neu einzubauen, ist ungefähr so sinnvoll wie die Lebensdauer von Faxgeräten zu verlängern oder neue Faxgeräte anzuschaffen. Man muss das leider so hart sagen: Schade fürs Geld. Dasselbe gilt für das Aufstellen neuer Signale und die Verlegung neuer Kupferkabel bis zum letzten Vorsignal: Völlig aus der Zeit gefallen.
Über die neue ETCS-Migrationsstrategie der DB ist bisher wenig bekannt. Durchgesickert ist aber schon, dass die DB in vier Schritten vorgehen will: Erstens die Modernisierung von ESTW; zweitens die sukzessive Ausrüstung des TEN-Kernnetzes zur Erfüllung der europäischen Ausrüstungsverpflichtungen sowie ein Fokus auf Ablösung der LZB; drittens die Ausrüstung weiterer Korridore; viertens die Synchronisation des Rollouts von Infrastruktur und Fahrzeugen im Zielbild ETCS L2oS. Wie beurteilen Sie das?
Die Erneuerung des veralteten Stellwerke-Zoos aus allen Epochen der Eisenbahngeschichte war bei der Digitalen Schiene von Anfang nicht nur im Fokus, sondern der Ausgangspunkt, der Zweck des Projekts Digitale Schiene Deutschland. ETCS ohne Signale ist genau die Lösung, um schnell mit der Stellwerksmodernisierung voranzukommen, weil man keinen oder weniger Tiefbau braucht, keine neuen Signale und die Kupferkabel für die Signale. Richtig aufgesetzt wäre ETCS ein Booster für die Stellwerkserneuerung und nicht ein Hindernis, wie es heute dargestellt wird.
Das gilt übrigens besonders für Nebenstrecken. Beispiel Erneuerung der Eifelstrecke zur Behebung der Flut-Schäden: DB InfraGO lobt sich selbst, dass man dort 200 neue Signale aufgestellt hat. Wäre es nicht viel billiger gewesen, zwei Dutzend Fahrzeuge auszurüsten und statt der 200 Signale samt Kabelkanälen und Kupferkabeln lieber 200 Balisen-Pärchen einzubauen, um mit ETCS ohne Signale fahren zu können?
Jan Görnemann, Sprecher der Geschäftsführung des Bundesverbands Schienennahverkehr (BSN), hat in einem Interview mit Rail Business Verständnis für die Entscheidung der InfraGo geäußert, die ETCS-Migrationsstrategie aufzuschieben. Dem stimmten seiner Meinung nach alle Akteure in der Branche zu. Wie schätzen Sie das ein?
Da kann ich Herrn Görnemann überhaupt nicht beipflichten. Ich weiß aus erster Hand, wie groß der Ärger im Sektor teilweise über diese Entscheidung ist. Und ich kann das nachvollziehen. Der flächendeckende Rollout von ETCS und DSTW ist sicher keine leichte Aufgabe. Die gesamte ETCS-Migrationsstrategie aber zu kippen und dann auch noch alte LST-Technik neu zu verbauen, das ist nun wirklich keine sinnvolle Lösung. Man muss sich das vorstellen: Die zentrale Informationsübermittlung von einem neugebauten Stellwerk zu den High-Tech-Zügen auf der Strecke ist immer noch der angestrengte Blick eines menschlichen Augenpaares auf schnell vorbeihuschende grüne oder gelbe Signallampen. Fällt dem DB-Vorstand denn nicht selbst auf, wie unglaublich vorgestrig das ist? (gk)