Ronald Pofalla

„Europäische Bahnpolitik – Anspruch und Wirklichkeit"

In diesem Jahr analysiert die EU-Kommission die Fortschritte, die bei der Umsetzung des Weißbuchs Verkehr aus dem Jahr 2011 erreicht wurden. Ein Anlass, um sich Gedanken darüber zu machen, wie es um den europäischen Eisenbahnmarkt eigentlich bestellt ist.

Mit der Neugestaltung des Eisenbahnmarktes haben die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten schon in den 1990er Jahren begonnen. Nach meiner Überzeugung sind die Ziele, die damit verfolgt wurden, weiter gut und richtig: Ein europäischer Bahnbinnenmarkt mit einheitlichen technischen Standards, transnationale Verkehrsnetze mit schnelleren und einfacheren Verbindungen, eine nachhaltige und umweltfreundliche Verkehrspolitik, die mehr Verkehr auf die Schiene bringt und die Straße entlastet.

In den letzten 25 Jahren sind mehrere hierfür relevante Gesetzgebungspakete verabschiedet worden. Wenn wir allerdings heute eine ehrliche Bilanz ziehen, müssen wir feststellen: Die europäischen Bahnmärkte sind nicht da, wo sie sein sollten. Die Frage ist, warum die verabschiedeten Maßnahmen nicht zum Ziel geführt haben. Meine Thesen sind:

1.    Eine ressort- und verkehrsträgerübergreifende Politik fehlt weitgehend. Der intramodale Fokus der Gesetzgebung ist zu eng.
2.    Wir brauchen nicht immer neue, sondern eine konsequente Umsetzung bestehender Gesetze.

Verkehrspolitik ist gewissermaßen ein Querschnittsthema, auf das andere Politikbereiche wie die Wirtschafts-, Finanz- oder Umweltpolitik einwirken. Entscheidungen anderer Ressorts konterkarieren im schlechtesten Fall die Ziele der Bahnpolitik. Umweltpolitisch motivierte Maßnahmen sind hierfür ein Beispiel. Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, die CO2-Emissionen des Verkehrs bis zum Jahr 2030 um 20 Prozent zu senken (gegenüber 2008). Die Schiene kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Ausgerechnet die klimafreundliche Schiene wird aber durch eine Vielzahl von Steuern und Abgaben auf elektrische Energie einseitig belastet und damit im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern verteuert. Die Herausforderung besteht darin, ressort- und verkehrsträgerübergreifend zu denken und zu handeln.

Die Stoßrichtung der Eisenbahnpakete ist richtig: Intramodale Marktöffnung, Stärkung von Unternehmertum, technische Harmonisierung. Das hat dem Sektor geholfen. Nun müssen wir aber feststellen, dass die regulatorischen und legislativen Vorschriften immer zahlreicher und komplexer werden. Allein in den letzten zehn Jahren sind sechs große Gesetzgebungspakete oder Überarbeitungen verabschiedet worden oder werden aktuell diskutiert. Ihre Umsetzung ist teilweise noch nicht abgeschlossen und in den Mitgliedstaaten unterschiedlich weit fortgeschritten. Schon die bloße Menge der Vorschriften erschwert eine vernünftige Kontrolle, ob die Umsetzung im Sinne des Gesetzgebers erfolgt. Die Einführung des EU-weiten Zugsicherungssystems ETCS ist ein Beispiel hierfür. Es zeigt, dass nach der Verabschiedung einer Rechtsvorschrift die Umsetzung in den Mitgliedstaaten weiter koordiniert werden muss.

Die Eisenbahnen sind einem intensiven Wettbewerb ausgesetzt – vor allem durch die Straße: Fernbusse, Carsharing, sinkende Kraftstoffpreise für Lkw erhöhen den Druck auf die Schiene. Um im Wettbewerb bestehen zu können, dürfen wir uns eine Selbstbeschäftigung mit ständig neuen Rechtsvorschriften nicht leisten. Wir müssen wieder mehr darauf achten, dass gesetzgeberische Maßnahmen konsistent auf die Ziele des Weißbuchs einzahlen.


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Artikel von Standpunkt aus dem EI Ausgabe 11/2015
Artikel von Standpunkt aus dem EI Ausgabe 11/2015