Interview mit Alstom-Deutschlandchef: "Wir würden gerne über Zahlungsbedingungen sprechen"
Alstoms neuer Deutschland-Chef Tim Dawidowsky spricht im Interview über die Lage seines Unternehmens, er fordert, nationale Zulassungsbehörden wie das EBA stärker auf europäischer Ebene zu integrieren – und er zeigt sich mit den Zahlungsbedingungen der Deutschen Bahn unzufrieden..
Tim Dawidowsky wirkt ausgeruht und konzentriert, als er sich in der Deutschlandzentrale von Alstom in Berlin mit bahn manager zum exklusiven Interview trifft. Das Gespräch findet in einem großen Besprechungsraum im achten Stock des Hochhauses am Ernst-Reuter-Platz statt. Von hier aus geht der Blick weit über die Stadt. Seit rund einem Jahr arbeitet Dawidowsky in seiner neuen Position bei dem Bahnunternehmen – zuvor war er von Mai 2022 bis August 2024 COO von Siemens Gamesa Renewable Energy in Spanien. Im Interview spricht er unter anderem über seine Pläne, die er für Alstom hat. Und er erklärt, was ihm als Newcomer im Bahnsektor auffällt – im Guten wie im Schlechten.
Herr Dawidowsky, wie kommt man von einem Windenergiespezialisten zu einem Bahnunternehmen?
Tim Dawidowsky: So weltbewegend ist dieser berufliche Wechsel gar nicht. Ich habe schon in vielen Branchen gearbeitet, neben Energie unter anderem in Airport Logistics, Metallindustrie, Öl und Gas sowie Marine. Ich bin es also gewöhnt, mich neu einzuarbeiten. Aber ja, ich bin sicherlich noch ein Newcomer in der Bahnindustrie, wenn es das ist, wonach Sie fragen. Alles andere zu behaupten, wäre unzutreffend.
Wie würden Sie die Lage von Alstom beschreiben, in der Sie zu dem Unternehmen gekommen sind?
Ich würde sagen: stabil, aber herausfordernd. Alstom war seit 2021 sicherlich stark mit der Übernahme von Bombardier Transportation beschäftigt. Es musste ein einheitliches Produktportfolio geschaffen werden, einheitliche Prozesse – bis hin zur gemeinsamen IT. Das hat intern viele Ressourcen gebunden, in Deutschland vielleicht noch mehr als anderswo.
Warum das?
Weil der Anteil von Bombardier Transportation in Deutschland besonders groß war. Über den Daumen gepeilt war Alstom in Deutschland nach der Übernahme Zweidrittel Ex-Bombardier und ein Drittel Alstom.
Aber das ist jetzt Geschichte, sagen Sie?
Richtig. Der technische Teil der Verschmelzung ist abgeschlossen. Es gibt kein Bombardier / Alstom mehr, sondern nur noch ein Alstom.
Worum geht es jetzt bei Ihrem Unternehmen?
Um Liefertreue, Kundenzufriedenheit und natürlich ums Geldverdienen. Wir wollen die Performance steigern. Wie Sie anhand der letzten Konzernzahlen sehen konnten, sind wir auf einem guten Weg. Aber ich sage ganz offen: Wir sind noch nicht die Besten in der Industrie.
Da waren etwa die Cash-Flow-Probleme der vergangenen Jahre...
Wenn Sie stark wachsen, belastet das immer den Cash Flow. Sie müssen Dinge vorfinanzieren, mehr Aufträge besorgen, mehr Materialien beschaffen. Inzwischen ist der Cash Flow mit einer halben Milliarde Euro aber wieder positiv. Profitabel arbeiten wir auch. Und ganz wichtig: Wir sind
Investment Grade, das heißt, die Ratingagenturen bescheinigen uns eine sehr gute Kreditwürdigkeit.
Eigentlich eine komfortable Lage. Wie wollen Sie denn jetzt die Performance steigern?
In Deutschland gehört zu den wichtigsten Maßnahmen sicherlich, dass wir die Arbeitsteilung zwischen unseren Standorten weiter schärfen. Einzig in Kassel haben wir eine klare Spezialisierung: Dort bauen wir unsere Lokomotiven. Bei den anderen Standorten gibt es noch Luft nach oben.
Salzgitter und Bautzen sollen sich vor allem um den Neubau von Rolling Stock kümmern. In Hennigsdorf wird der Schwerpunkt auf Service und Digitalisierung gelegt.
Richtig, Wartung und Instandhaltung sowie Digitalisierung sind Wachstumsbereiche, auf die wir in Hennigsdorf setzen. Mit der Modernisierung der Züge für den Digitalen Knoten Stuttgart leisten wir in Hennigsdorf bereits Pionierarbeit für die Fahrzeugdigitalisierung in Deutschland. Das wollen wir ausbauen. Entsprechend soll in den nächsten Jahren kräftig in den Standort investiert werden.
Den Standort Görlitz hat Alstom aber verkauft. Warum?
Weil wir Überkapazitäten abbauen mussten. Der Rohbau war über die Jahre nach Polen gewandert. Es blieb uns daher nichts anderes übrig, als den Standort Görlitz aufzugeben. Glauben Sie mir, die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen. Glücklicherweise ist unser Werk von einem starken Unternehmen gekauft worden. KNDS wird einen sehr großen Teil unserer ehemaligen Mitarbeiter weiter beschäftigen.
Insgesamt hat Alstom in Deutschland derzeit rund 9.600 Mitarbeitende. Wird es dabei bleiben?
Wenn Görlitz komplett an KNDS übergegangen ist, sind es noch rund 9.000. Dabei soll es dann bleiben. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Mit einem durchschnittlichen Marktvolumen von rund 10 Milliarden Euro pro Jahr ist Deutschland der größte Bahnmarkt Europas. Wir erhoffen uns auch noch zusätzlichen Schwung durch das Infrastruktur-Sondervermögen der Bundesregierung. Es sieht also sehr gut aus – und wir haben in Deutschland noch viel vor.
Aber nochmal zur Spezialisierung Ihrer Standorte: Ist damit auch das Ziel verbunden, den Portfolio-Mix bei Alstom zu ändern? Derzeit kommen ja 70 bis 80 Prozent des Umsatzes aus dem Fahrzeugbau, der Rest je zur Hälfte aus Service und Digitalisierung.
Ja, das ist richtig. Unser Ziel ist es, je 25 Prozent unseres Umsatzes mit Service und Digitalisierung zu erwirtschaften und die andere Hälfte mit dem Fahrzeugbau – bei insgesamt wachsendem Geschäft natürlich. Das wird zwar eine eher langfristige Entwicklung sein. Aber es ist immer besser, mehrere kräftige Standbeine zu haben.
Nun hat die DB InfraGo beim Thema Digitalisierung eine Entscheidung getroffen, die Ihre Wachstumspläne in dem Bereich möglicherweise durchkreuzen könnte: Der bisherige ETCS-Rollout-Plan wurde kassiert und verschoben. Wie beurteilen Sie das?
Ich halte die Entscheidung für strategisch falsch. Zwar hat das Bundesverkehrsministerium in seinem Eckpunkte-Papier für die Reform der Bahn angekündigt, dass 2027 eine Entscheidung zur Digitalisierungsstrategie erfolgt. Dennoch sind die aktuellen Pläne diesbezüglich wenig ambitioniert. Statt einer Verlängerung von LZB, wie von der DB angekündigt, wünsche ich mir in Deutschland möglichst bald die besten und modernsten Technologien für die Schiene.
Aber inwiefern ist die Entwicklung unambitioniert?
Es kann doch nicht sein, dass sich Deutschland an das Ende einer Entwicklung stellt, bei der es eigentlich an der Spitze stehen sollte. Mittlerweile sind uns mehrere Länder in Europa bei ETCS weit voraus. Das wichtigste Bahnland des Kontinents aber kommt nicht aus dem Startblock. Das ist für mich ein enttäuschender Weg, den wir da einschlagen.
Die InfraGo hat bei Ihrer Entscheidung unter anderem unsichere Finanzierungszusagen des Bundes geltend gemacht.
Keine Frage, es gibt gute Argumente für diese Entscheidung. Ich sehe die schwierige Situation der InfraGo, die offenen Finanzfragen etwa, und dass Deutschland das größte Streckennetz Europas hat. Der ETCS-Rollout ist ein extrem anspruchsvolles Großprojekt.
Aber?
Mein Eindruck ist eher, dass man kurzfristig operative Erfolge erzielen will, also etwa schnell die Pünktlichkeitsquote verbessern möchte. Deshalb wird die Generalsanierung ohne ETCS priorisiert. Aber das ist zu kurzfristig gedacht. Wenn Sie jetzt Strecken erneuern, wie Hamburg – Berlin, und dabei auf ETCS verzichten, müssen Sie später wieder sperren, um ETCS nachzurüsten. Sie müssen Züge mit mehreren Systemen ausstatten und sie permanent in die Werkstatt holen. Das alles wird am Ende deutlich teurer, als wenn man jetzt die Arbeiten komplett erledigen würde.
Trifft die Absage an die ETCS-Rollout-Strategie Alstom denn auch wirtschaftlich?
Ja, selbstverständlich. Es ist immer schwierig, wenn Sie als Industrie nicht wissen, wohin die Reise geht. Wir haben für viel Geld neue digitale Lösungen entwickelt – und wollen sie auch zum Einsatz bringen. In Hennigsdorf können Sie die Folgen dieser Unsicherheit erkennen: Wir planen dort Investitionen in Höhe von rund 40 Millionen Euro. Aber ich sage es mal so: Bevor Sie einen großen Hafen bauen, wollen Sie sichergehen, dass anschließend auch genügend Schiffe einlaufen.
Manche beklagen ja, der Bahnsektor sei generell zu träge, zu strukturkonservativ – ja sogar innovationsfeindlich. Würden Sie das nach einem Jahr in der Branche bestätigen?
Nein, das halte ich für zu pauschal und übertrieben. Natürlich hat auch die Bahnbranche ihre Themen, ihre strukturellen Schwächen – wie andere Branchen auch. Aber die Merkmale, die Sie genannt haben, würden mir da nicht einfallen.
Welche Schwächen sehen Sie denn?
Man muss sicher nicht neu in die Branche hineinkommen, um zu sehen: Da gibt es ein ganz erhebliches Problem beim Thema Zulassung. Wie viel wir hier bei Alstom über das Thema sprechen, das hat mich schon überrascht.
Bei der Bahn soll es halt besonders sicher zugehen.
Bei der Sicherheit darf es keine Abstriche geben, das ist gar keine Frage. Die Eisenbahn gilt ja auch nicht von ungefähr als sicherster Verkehrsträger überhaupt. Einen solchen Ruf muss man sich auch erst einmal erarbeiten. Aber die Frage ist doch: Wo wird tatsächlich an Sicherheit gearbeitet, und wo sind aus einer Routine heraus Prozeduren entstanden, die nicht nur mit Sicherheit zu begründen sind? Ich sehe schon, dass man da manches schlanker gestalten könnte.
Was denn ganz konkret?
Schauen Sie sich doch nur mal den Zulassungsprozess in Gänze an. Ich erlebe es derzeit bei uns im Unternehmen bei den Lokomotiven: Da haben Sie bei der Homologierung nicht nur die ERA involviert, sondern für jedes Land, durch das Sie fahren wollen, eine nationale Zulassungsbehörde. Jede nationale Behörde hat nochmal ein bisschen andere Anforderungen. Wir reden in Europa seit Jahren darüber, die Interoperabilität zwischen den Ländern zu steigern, gemeinsame Standards auf der Strecken- und Fahrzeugseite einzuführen. Doch dieser Prozess geht viel zu langsam. Stattdessen baut jedes Land noch einmal einen kleinen regulatorischen Balkon an. Bei ETCS beispielsweise. Das ist definitiv ein Problem, das ich aus anderen Branchen so nicht kenne.
Wie ließe sich das bessern?
Helfen würde mit Sicherheit eine stärkere Integration der Behörden, das heißt, die nationalen Zulassungsbehörden sollten schrittweise in der ERA aufgehen. Man sollte da nichts überstürzen, eine solche Integration kann nur ein evolutionärer Prozess sein. Aber wenn wir ernsthaft mehr Konvergenz bei den europäischen Bahnsystemen erreichen wollen, dann sehe ich keinen anderen Weg. Leider kann ich in der Politik derzeit keine ernsthaften Bemühungen in diese Richtung erkennen.
Woran liegt das?
Da geht es vor allem um nationale und supranationale Kompetenzfragen. Entscheidend ist jedoch, dass sich der Verkehrsträger Schiene in den vergangenen Jahren enorm entwickelt hat. Die Systeme werden immer leistungsstärker, die Züge immer schneller. Die Eisenbahn wird so immer mehr zum Konkurrenten für das Flugzeug, zumindest bei Kurzstreckenflügen. In Deutschland wird diese Entwicklung derzeit etwas verstellt von den vielen Problemen mit der Infrastruktur. Aber glauben Sie mir, ich weiß wovon ich rede. Ich habe zuletzt drei Jahre lang in Spanien gewohnt und habe dort für Inlandsreisen fast nur noch den Zug benutzt, weil das System so exzellent ausgebaut ist und performt.
Wo wir von Hochgeschwindigkeitszügen sprechen: Im Fernverkehr konnte Alstom bisher nicht bei der Deutschen Bahn punkten, sie kauft bisher ausschließlich Züge bei Siemens – und neuerdings auch bei Talgo. Dabei hat Alstom den TGV.
Und natürlich haben wir Ambitionen, unser exzellentes Produkt auch an die Deutsche Bahn zu verkaufen. Es wäre auch kein Problem, den doppelstöckigen TGV an die Bedingungen der DB anzupassen. Die DB bevorzugt einstöckige Züge. Alstom ist mit seinem Portfolio in der Lage, einen passenden Hochgeschwindigkeitszug für Deutschland anzubieten.
Dann steht einer Beteiligung an Ausschreibungen ja nichts mehr im Wege…
Wenn es so einfach wäre. Es gibt in Ausschreibungen ja noch weitere Rahmenbedingungen – und auch die müssen für uns passen.
Was meinen Sie?
Wir würden gerne über Zahlungsbedingungen sprechen. Die DB zahlt in der Regel erst bei Lieferung der Züge. Es gibt keine Anzahlung oder Zahlungsmeilensteine. Das heißt, die Kosten für Entwicklung, Materialbeschaffung, Produktion und Zulassung der Züge muss der Lieferant vorfinanzieren. Das stellt die Bahnindustrie vor große Herausforderungen und gehört auf den Prüfstand.
Was möchten Sie?
Es spricht nichts dagegen, die Zahlungsbedingungen bei Fernverkehrszügen genauso zu gestalten, wie es in den meisten anderen Industrien üblich ist. In der Regel wird mit Anzahlungen und Zahlungsmeilensteinen gearbeitet. Über deren genaue Ausgestaltung muss man dann auch nochmal diskutieren. Aber dass auf solche Methoden vollständig verzichtet wird, das kenne ich bisher nur aus der Bahnbranche.
Siemens Mobility und Talgo akzeptieren diese Zahlungsbedingungen aber auch.
Als Präsidiumsmitglied im Verband der Bahnindustrie in Deutschland kann ich sagen, dass das Thema die ganze Branche bewegt. Übrigens ließe sich mit einer Modifizierung der DB-Zahlungsbedingungen auch Steuergeld sparen, denn die DB hat als Staatsunternehmen viel bessere Kreditkonditionen als die Industrie.
Geht es bei den Hochgeschwindigkeitszügen nicht immer auch um nationale Industrie- und Standortpolitik?
Dann wäre Alstom mit rund 9600 Beschäftigten an 14 deutschen Standorten in der Poleposition. Wir bauen hierzulande aktuell an vier Produktionsstandorten Züge, Straßenbahnen und Loks. Zeigen Sie mir ein Unternehmen der Bahnindustrie mit vergleichbarer Wertschöpfung in Deutschland.
Das Interview ist dem aktuellen bahn-manager-Heft (Ausgabe 5/2025) entnommen.
